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Von römischen Tagen und florentinischen Nächten

Aus der Entstehungsgeschichte der Priesterbruderschaft St. Petrus erzählt von P. Engelbert Recktenwald FSSP.
Der folgende Beitrag ist der im Jahr 1998 veröffentlichten Sondernummer des Informationsblatts der Priesterbruderschaft St. Petrus entnommen.


Wenn ich über die Entstehung der Priesterbruderschaft St. Petrus erzähle, trägt das notwendigerweise sehr subjektive Züge. Deshalb will ich mich von vorneherein auf meine persönliche Sicht beschränken und sogleich ein persönliches Bekenntnis voranschicken: Wenn ich an die Ereignisse von damals zurückdenke, durchdringt mich ein einziges großes Gefühl: Dankbarkeit. Dankbarkeit für das Geschenk, die Führung Gottes in Seiner unaussprechlichen Liebe und Treue erfahren zu dürfen, ein Geschenk, das keine Macht der Welt mir wieder rauben kann.

Im Jahr 1988, als Erzbischof Lefebvre gegen päpstliches Verbot vier Bischöfe weihte, war ich Priester seiner Gemeinschaft, der Priesterbruderschaft St. Pius X., und wirkte in deren Niederlassung in Stuttgart-Feuerbach. Mir war schon lange klar, dass ich einen solchen Schritt niemals würde mittragen können, und hatte meine Haltung bereits im September 1986 dem Generaloberen P. Franz Schmidberger mitgeteilt. Andererseits wäre es mir auch unmöglich gewesen, die theologische und liturgische Formung, die ich in der Piusbruderschaft dankbar empfangen hatte, einfach abzuschütteln. Denn diese Formung trug, von einzelnen Verengungen abgesehen, die hier und da gerade in jüngerer Zeit aufgetreten sein mochten, den Stempel der Tiefe und Weite katholischer Tradition. Die heilige Messe und die Liturgie, in die ich im Laufe der Seminarausbildung hineinwuchs, war gerade nicht die Liturgie der Piusbruderschaft oder Erzbischof Lefebvres, sondern die der Kirche und ungezählter Heiliger, die von ihr im Laufe der Jahrhunderte über die historische Grenzlinie von Neuzeit und Mittelalter hinweg geprägt worden waren. Ich war nicht bereit - auch nicht im Falle meines Weggangs von der Piusbruderschaft -, diese Schätze aufzugeben. Die entsprechende Forderung erschien mir völlig unplausibel. Nie erkannte ich hinter ihr in den vielen Gesprächen, in denen sie gestellt wurde, die Liebe zur Liturgie, die Sorge um ihre ehrfürchtige Feier, den Glauben an das tiefe Geheimnis der heilige Messe, sondern ganz andere Sorgen “pastoraler” Art, denen der Verlust des Sinnes für Ehrfurcht und Mysterium im besten Fall als das kleinere Übel erschien. Nie konnte ich mich davon überzeugen, dass es das Richtige wäre, mich dieser verzerrten Perspektive anzupassen. Aus diesem Grund trug ich mich mit dem Gedanken, mich im Falle schismatischer Bischofsweihen zurückzuziehen und in geistlicher Einsamkeit auf bessere Zeiten der Kirche zu warten. Der Gedanke, die Gründung einer neuen Gemeinschaft mit dem Segen Roms anzupeilen, wurde erst eine Woche vor der Bischofsweihe an mich herangetragen, und zwar von Seminaristen in Zaitzkofen, dem deutschsprachigen Seminar der Piusbruderschaft, die mich anriefen und mich baten, ihnen zu helfen. Sie wollten einerseits am 30. Juni, dem Tag der Bischofsweihe, nicht mit ins Schisma gehen, andererseits aber das Priestertum im Geiste des bereits eingeschlagenen Weges erlangen. Eine Chance hätten sie nur, wenn sie zusammenblieben und sich als Gemeinschaft mit diesem Anliegen nach Rom wendeten. Diese Chance wäre aber viel größer, wenn auch Priester dabei mitmachten. Ich sagte zu und begann ein Treffen zu organisieren, und zwar für den Tag danach, den 1. Juli, in einem Ort in Niederösterreich, bei einem befreundeten Priester. Dass unabhängig davon ähnliche Pläne von Mitbrüdern in Frankreich verfolgt wurden, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt.

Auf keinen Fall wollte ich schon vor dem 30. Juni handeln. Zwar war uns, den Priestern der Piusbruderschaft, am 13. Juni von P. Schmidberger das Scheitern der Verhandlungen Erzbischof Lefebvres mit Rom mitgeteilt worden, dennoch wollte ich die Bischofsweihen selber abwarten. Ich wollte meiner Hoffnung auf ein Wunder in letzter Sekunde keine Grenze setzen, und wenn dieses Wunder in einem die Weihen vereitelnden Beinbruch des Erzbischofs eine halbe Stunde vor Beginn der Zeremonie bestanden hätte. Doch dieses Wunder trat nicht ein, und so verließ ich am Donnerstag, den 30. Juni 1988 um 9.00 Uhr Stuttgart-Feuerbach, meine “Gemeinde”, Freunde und Bekannte, meine kirchliche Heimat, um mich auf den Weg nach Niederösterreich zu machen. Nach einem ordentlichen Umweg über St. Pelagiberg kam ich abends an. Als mein Auto Siegmundsherberg, den vereinbarten Treffpunkt, erreichte, zeigte mein Tageszähler exakt 1000 Kilometer an.

Am nächsten Tag, am Fest des Kostbaren Blutes, begann das Treffen, das bis zum 3. Juli dauerte. Außer dem “Gastgeber” nahmen vier Priester und neun Seminaristen daran teil. Die vier Priester waren: P. Josef Bisig, P. Patrick du Faÿ de Choisinet, P. Klaus Gorges und ich. Nach einigen Diskussionen einigten wir uns darauf, eine Erklärung zu verfassen, in der wir die unrechtmäßigen Bischofsweihen bedauerten, das Entgegenkommen Roms im Einigungsprotokoll vom 5. Mai begrüßten und unseren Entschluss mitteilten, in der Einheit mit Rom zu verbleiben und auf der Basis des Einigungsprotokolls als eine eigene Gemeinschaft errichtet zu werden, um in der Kirche für die Kirche zu wirken. Das genannte Einigungsprotokoll, von Kardinal Ratzinger einerseits und Erzbischof Lefebvre andererseits unterschrieben, hatte u.a. die Erlaubnis vorgesehen, an der alten Liturgie festzuhalten. Der Erzbischof hatte dann diese Einigung wieder platzen lassen, - zum Schmerz des gemäßigten und zur Freude des radikalen Flügels der Piusbruderschaft. Am Nachmittag des 2. Juli, des Festes Mariä Heimsuchung, war unsere Erklärung fertiggestellt. Wir hatten vor, sie in den nächsten Tagen nach Rom zu bringen. Am Abend hörten wir uns am Radio meines Autos die Nachrichten von Radio Vatikan an. Dort erfuhren wir, dass heute, am 2. Juli, der Papst ein Motu proprio “Ecclesia Dei” erlassen habe, in dem er die Priester und Gläubigen um Erzbischof Lefebvre aufrief, in Einheit mit Rom zu bleiben, und die Zusagen des Einigungsprotokolls ihnen gegenüber als weiterhin bestehend erklärte. Es war wie eine Antwort auf unsere Erklärung, ohne dass schon ein Kontakt zustande gekommen wäre. Seitdem glaubte ich, dass es weitergehen werde. Es war der dritte Tag seit den Bischofsweihen, der Tag der Auferstehung.

Am Sonntag, den 3. Juli, fuhren wir nach Wien zu einer Audienz mit Erzbischof Kardinal Groer. Diese Audienz war auf folgende Weise zustandegekommen: P. Klaus Gorges war der einzige unter uns Priestern, der schon vor dem 30. Juni die Piusbruderschaft verlassen hatte, etwa zwei Wochen zuvor. Da er in Wien wohnte, hatte er sich an den Kardinal mit der Bitte um einen Termin gewandt, der ihm für den 3. Juli zugesagt worden war. Diese Gelegenheit nutzten wir, und nachdem wir uns telephonisch mit Wien versichert hatten, dass einer Erweiterung der Audienz auf den ganzen Kreis der in Niederösterreich Versammelten nichts im Wege stünde, machten wir uns alle am Sonntag auf den Weg nach Wien. Dort empfing uns am Nachmittag der Kardinal überaus freundlich, hörte unsere Anliegen und Projekte an und machte uns Mut. Als P. Bisig die Prophezeiungen unserer in der Piusbruderschaft verbliebenen Mitbrüder zu bedenken gab, nämlich, dass Rom uns nur in eine Falle locken und dann den Hahn seiner Zugeständnisse wieder zudrehen wolle, versicherte der Kardinal uns der Ehrlichkeit Roms. Und wenn Rom tatsächlich einmal einen Rückzieher machen wolle, dann werde er es an seine Zusagen erinnern. Er werde noch heute nach Rom telefonieren und Kardinal Ratzinger unser Kommen ankündigen.

Tatsächlich wollten wir so schnell wie möglich nach Rom. Nach der Audienz feierten wir bei einem Abendessen in einem Wiener Restaurant unseren Neubeginn und nahmen voneinander Abschied. Noch am selben Abend machten P. Bisig, P. du Fay und ich uns im Auto von P. Bisig auf den Weg, während ich mein Auto in Wien zurückließ. Wir kamen etwa bis zur Höhe von Salzburg, wo P. Bisig, unserem Fahrer, die Augen so schwer wurden, dass wir in der Raststätte Mondsee einkehrten und übernachteten. Am nächsten Morgen gings weiter nach Vachendorf. Dort trafen wir uns mit dem inzwischen verständigten P. Gabriel Baumann, der von München aus auf uns stieß. Nachdem wir zelebriert hatten, machten wir uns auf den Weg nach Rom. Dort waren bereits einige unserer französischen Mitbrüder. P. Bisig hatte mit ihnen den Kontakt hergestellt und als Treffpunkt den Obelisk auf dem Petersplatz vereinbart, und zwar für Montag Abend. Da wir vor Florenz in einen Stau gerieten, mussten wir auf den Ersatztermin ausweichen den Dienstag Vormittag, den 5. Juli. Wir kamen eine halbe Stunde zu spät und konnten noch gerade unsere Mitbrüder erwischen, die dabei waren, den Petersplatz nach vergeblichem Warten zu verlassen. Diese vier französischen Priester waren: P. Denis Coiffet von der Piusbruderschaft und drei weitere Priester, die nicht dazugehörten, aber dieselbe Richtung vertraten: P. Tournyol du Clos, der dann später auch zur Petrusbruderschaft kam, und die Brüder de Blignières.

Wir erfuhren, dass dieselben schon eine Audienz mit Kardinal Ratzinger gehabt hatten. Dabei war deutlich geworden, dass es Rom mit dem Motu proprio ernst sei. Es wurden nicht die alten Verhandlungen über die strittigen Punkte aufgewärmt, sondern es ging um konkrete Fragen der praktischen Verwirklichung unseres Vorhabens. Man sagte uns, dass Kardinal Ratzinger uns erwarte. P. Bisig und ich suchten ihn auf und wurden für eine Viertelstunde zu einem Gespräch empfangen, durch welches wir die Einschätzung unserer Mitbrüder bestätigt fanden.

Wir hielten uns drei Tage in Rom auf. Am Dienstag hatten wir die besagte Audienz mit Kardinal Ratzinger, am Mittwoch eine kurze Begegnung mit dem Papst und am Donnerstag eine lange Audienz bei Augustin Kardinal Mayer, dem vorgesehenen Präfekten der damals noch geplanten Kommission “Ecclesia Dei”. An allen drei Tagen hatten wir ausführliche Arbeitsgespräche mit dem vorgesehenen Sekretär der Kommission, Msgr. Camille Perl. Dabei wurden wir in die Geheimnisse des Entstehungsprozesses einer Gesellschaft eingeweiht: Wir müssten die Gemeinschaft gründen und dann mit der Bitte um Errichtung an den Heiligen Stuhl herantreten.

Gesagt, getan. Am Mittwoch, den 6. Juli gründeten wir in Rom die Priesterbruderschaft St. Petrus als eine Gesellschaft des apostolischen Lebens. Gründer waren: P. Bisig, P. du Faÿ, P. Baumann, P. Coiffet und ich. Später wurde dann diese Gründung auf breiterer personeller Basis erneuert, nämlich am 18. Juli im schweizerischen Hauterieve.

Am 7. Juli abends kam der Abschied von Rom. P. Bisig, P. du Faÿ, P. Baumann, P. Tournyol du Clos und ich wollten zum Abschied noch ein wenig die Geburt unserer neuen Gemeinschaft feiern. So steuerten wir im Wagen von P. Bisig ein römisches Lokal an. Fahrer war P. Baumann. Als er eines erblickte, welches seinen Vorstellungen entsprach, fuhr er geradewegs darauf zu. Als P. Bisig ihn darauf aufmerksam machte, dass wir gerade dabei seien, die Grenze zu einer für Autos verbotenen Zone zu überschreiten, meinte P. Baumann nur, dies sei in Italien niemals so eng gemeint. Nachdem wir in aller Bescheidenheit und Mäßigkeit mit einem italienischen Menü und Rotwein die Neugründung gefeiert hatten, wurden wir eines Besseren belehrt: Beim Verlassen des Lokals gewahrten wir sofort im Halbdunkel der Abenddämmerung die Polizei. Gerade wurde ein Auto abgeschleppt, das nicht weit von dem unseren geparkt hatte. Der Platz vor dem Lokal hatte nur eine Zufahrt. Die mussten wir passieren, wenn wir wegfahren wollten, doch da wimmelte es nur so von Polizisten, die mitten in der Arbeit waren. Nach genauer Begutachtung der Situation entdeckten wir, dass es gegenüber der Zufahrt doch noch eine zweite gab. Es handelte sich um eine stille Gasse, die aber so eng war, dass ein etwas unglücklich geparktes Kleinauto eine mögliche Ausfahrt blockierte. Nun begann die Beratschlagung, die den Charakter der Beteiligten offenbarte: Die Verwegenen unter uns machten den Vorschlag, das Kleinauto mit vereinten Kräften ein Stück zur Seite zu heben und dann den Ausbruch über diesen Fluchtweg zu wagen. Wenn wir nur flink genug wären, würde die Polizei das Nachsehen haben. Die Verwegenen, das waren: P Tournyol du Clos und P. Baumann. Die anderen mahnten zur Besonnenheit, doch ohne sich zunächst durchzusetzen. Ich selber sah unsere Gemeinschaft schon als “St. Petrus in Ketten”. Doch die Vorsehung vereitelte den Plan. Als wir uns rings um das Kleinauto aufstellten und schon zum Hieven ansetzen wollten, schaute gerade jemand aus dem Fenster heraus oder tauchte jemand am anderen Ende der Gasse auf. Wir machten einen kleinen Rundgang, um zu warten, bis die Luft rein sei. Doch so verlassen, wie es zunächst schien, war die Gasse gar nicht. Schließlich wendete sich die Stimmung zugunsten des Rufes der Vernunft: Besser ein Bußgeld am Anfang als Gefängnis am Ende. Wir gingen zu unserem Auto, um im Schrittempo den Platz zu verlassen, der Polizei in die Arme zu fahren und uns dem Schicksal zu ergeben. P. Baumann warf den Motor an, P. Tournyol du Clos begann, drei „Ave Maria” vorzubeten. Wir näherten uns den Polizisten in der Erwartung, jeden Augenblick angehalten zu werden. P. Baumann ließ das Fenster runter, nach dem „Ave Maria” kam das „De profundis” dran, der Wagen rollte im Schrittempo und - es geschah nichts! Wir fuhren unmittelbar an der Polizei vorbei, ohne dass sie irgendeine Notiz von uns genommen hätte. Wie durch ein Wunder waren wir frei. Seitdem wusste ich, daß Gott mit uns ist.

Es war Donnerstag Abend. Geplant war die Rückreise in einer ersten Etappe bis zu unserer schon auf der Hinfahrt benutzten Unterkunft in einem kleinen Dorf südlich von Florenz, dann die Weiterreise am Freitag nach Deutschland. Nun hatte ich mein Auto in Wien, und damit wollte ich noch nach Stuttgart fahren, um vom Ordinariat die Erlaubnis zu erhalten, am Sonntag die hl. Messe im alten Ritus zu lesen, und zwar für jene Gläubigen meiner ehemaligen Gemeinde, die wie ich den Weg der Piusbruderschaft nicht mitgehen konnten. Die Zeit drängte! Eine Übernachtung in Italien bedeutete unverantwortlichen Zeitverlust. So bestürmte ich meine Mitbrüder, mich zum Bahnhof von Montevarchi zu bringen, wo ich alleine mit dem Zug nach Wien weiterfahren wollte. Ich hoffte, am nächsten Morgen in Wien anzukommen. Abends um 10 Uhr kamen wir am Bahnhof an. P. Bisig erfasste durch einen Blick auf die Abfahrtstafel als erster die Situation: In zwei Minuten ging der letzte Zug nach Norden Richtung Florenz. Ich ging zum Schalter, um meine Karte zu kaufen, da hörte man schon den herannahenden Zug. Während ich ihn bestieg, stürzte sich P. Baumann zurück ans Auto, nahm mein Gepäck und warf es mir noch gerade rechtzeitig nach. Der Zug setzte sich schon in Bewegung, ich hatte ein komisches Gefühl und fragte einen der Zuginsassen, wohin der Zug denn gehe. Die Antwort war niederschmetternd: Rom! Fieberhaft dachte ich nach, was nun zu tun sei, um noch rechtzeitig nach Wien und Stuttgart zu kommen. Plötzlich, nach etwa 100 Metern, stoppte der Zug. Ich dachte gerade, eigentlich könnte ich jetzt aussteigen, als mir schon der Schaffner entgegenkam und mich aufforderte, auszusteigen. Was war geschehen? P. Baumann hatte den Schalterbeamten dazu bewegen können, das Signal zum Halten zu geben. So etwas ist nur in Italien möglich... Ich stieg aus und ging unter den fragenden Blicken der herausschauenden Zugpassagiere durch die stille Nacht unter dem Knirschen des Gleisschotters zum Bahnhof zurück, als auch schon der richtige Zug ankam. Dort nahm ich erleichtert Platz in einem Abteil, das ich mit einem Mitpassagier teilte, der sich ununterbrochen mit mir auf italienisch unterhielt, ohne dass ich irgend etwas verstand. Bis heute weiß ich nicht, was er mir sagen wollte, obwohl er sich eine dreiviertel Stunde lang Mühe gab. Dann kamen wir in Florenz an. Auf dem Riesenbahnhof waren von den vielen Schaltern noch zwei geöffnet, vor denen jeweils eine gleich lange Menschenschlange stand. Ich entschied mich für eine von beiden und kam nach einer halben Stunde endlich an die Reihe, um zu erfahren, dass der internationale Schalter um die Ecke sei. Dort ging es etwas schneller. Ich bekam meine Karte nach Wien ohne weitere Auskünfte. Das einzige, was ich erfuhr, war die Abfahrtszeit: Irgendwann zwischen zwei und drei Uhr in der Nacht. Die Zeit wollte ich nutzen, um mir Florenz anzuschauen, doch beim Verlassen des Bahnhofs fiel mein Blick auf “informazioni”. Es handelte sich um Fahrpläne, denen ich entnahm, dass mein Zug erst am Freitag Abend in Wien ankommen werde. Das war für mein Vorhaben eine Katastrophe! Die beste Alternative, die ich fand, war ein Zug nach München. Ankunft um 10.00 Uhr, Abfahrt um 0.00 Uhr. Ich blickte auf die Uhr: Es war 23.45 Uhr. Sofort ging ich wieder an den Schalter, bekam anstandslos ein Ticket und zum Erstaunen der mich beobachtenden Warteschlangen hinter mir noch Geld zurück und begab mich zum Gleis 12, wo der Zug nach München stand. Eine Sicherheitsfrage an den Lokomotivführer, der zum Fenster hinausschaute, nahm mir den letzten Zweifel, dass es sich um den richtigen Zug handele. Ich nahm gemütlich in einem menschenleeren Abteil Platz und wartete bis 0.00 Uhr. Doch nichts bewegte sich. Nach ein, zwei, fünf und weiteren dreißig Minuten immer noch dasselbe! Schließlich machte ich mich auf die Suche und fand einen Schaffner seelenruhig schlafend in einem Gepäckwaggon. Nach mehreren Sprachversuchen bekam ich endlich heraus, dass zwischen Florenz und Bologna der Strom ausgefallen sei. Abfahrts- und Ankunftszeit in München seien völlig ungewiss... Die Müdigkeit kam meiner Geduld zu Hilfe, dennoch konnte ich die ganze Nacht keine Minute schlafen. Nach über zwei Stunden gings doch noch los. Morgens um fünf Uhr stiegen drei Italienerinnen zu, die mich meiner Einsamkeit verlustig machten. Die erste an mich gerichtete Äußerung war die unvermittelte Frage: Was halten Sie von Erzbischof Lefebvre? Ich erzählte auf englisch so gut es ging ungefähr das, was ich nun in diesem Artikel geschrieben habe...

Um 13.00 Uhr kam ich in München an. Dort suchte ich das Priorat der Piusbruderschaft auf, um mich erst einmal richtig frisch zu machen. Dessen Chef, P. Baumann, war gerade abwesend. Der zweite Mann war P. Albert Lehnen, ein alter Freund von mir, der eigentlich die Ablehnung der Bischofsweihe mit mir geteilt hatte. In der Meinung, er wüsste Bescheid, erzählte ich ihm freudestrahlend von dem guten Gang der Dinge in Rom, doch er fiel aus allen Wolken. Er hatte nichts von unserer Fahrt nach Rom gewusst und war auch nicht bereit, die Piusbruderschaft zu verlassen. Denn er wolle den Erzbischof in seiner schwersten Stunde nicht im Stiche lassen. Dies war der Anfang meiner schmerzlichen Erfahrung, dass viele meiner ehemaligen Freunde und Mitbrüder, die ursprünglich gegen die Bischofsweihen eingestellt waren, dennoch in der Piusbruderschaft verblieben, und zwar oft aus persönlichen und in sich sehr ehrenhaften Gründen, während wir als die “Verräter” dastanden... So war die Zahl der Petrusbrüder letztlich weitaus geringer als jene, mit der ich ursprünglich gerechnet hatte. Es waren immer gerade so viele, wie es nötig war, um die anstehenden Aufgaben zu bewältigen: die Eröffnung des Priesterseminars im Oktober usw.

Wie es weiterging, mag einer ungewissen Fortsetzung dieses Artikels anheimgestellt sein. Nur eines will ich hier festhalten: Ich habe keine Sekunde meine Entscheidung, in der Einheit mit Rom zu bleiben, bereut. Trotz aller Schwierigkeiten und Enttäuschungen, die meine Mitbrüder und ich gerade innerkirchlich immer wieder erleben mussten, überwiegt bei weitem die Erfahrung der treuen Führung Gottes. Es gibt so viele kleine Fügungen, in denen sich der Finger Gottes gezeigt hat, dass das “heiße Jahr” 1988 zu einem der wichtigsten Jahre meines Lebens geworden ist. Gott sei in Ewigkeit gepriesen!