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Hitlers langer Schatten -
Bedenkenswertes zur Euthanasiedebatte

von P. Dr. Martin Lugmayr FSSP
 
Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner erstellte im „Deutschen Ärzteblatt“ eine Rechnung, nach der Geisteskranke, Fürsorgezöglinge, Blinde, Taubstumme, Trinker und Hilfsschüler dem Staat jährlich 1,2 Milliarden Reichsmark kosten. In Schulbüchern fanden sich Mathematikaufgaben wie diese: „Der Bau einer Irrenanstalt erforderte 6 Millionen RM. Wieviel Siedlungshäuser zu je 1500 RM hätte man dafür bauen können?“
Der Münchner Kardinal Faulhaber ahnte bereits, was sich da anbahnte. Im Fastenhirtenbrief von 1934 schrieb er u.a.: „Ein furchtbares Wort ist gefallen. Gut ist, was dem Volke dient... Könnte nicht ein Fanatiker auf den Wahn kommen, Mord und Meineid dienten dem Wohl des Volkes und seien daher gut? Könnte nicht ein Arzt auf den Gedanken kommen, die Tötung von Geisteskranken, die sogenannte Euthanasie, erspare dem Staat große Fürsorgelasten, sie diene dem Wohle des Volkes und sei daher gut?“
In einer Zeitschrift erschien in den dreißiger Jahren ein Leserbrief, der ein Gesetz forderte, das die Tötung behinderter Kinder mit Einverständnis der Eltern vorsah. Im Kommentar der Redaktion hieß es dann dazu: „Wenn einer sagt, der Mensch habe kein Recht, zu töten, so sei ihm erwidert, dass der Mensch noch hundertmal weniger Recht hat, der Natur ins Handwerk zu pfuschen und etwas am Leben zu erhalten, was nicht zum Leben geboren wurde. Das hat mit christlicher Nächstenliebe nicht das Geringste zu tun. Denn unter dem Nächsten können wir nur den Mitmenschen verstehen, der imstande ist oder imstande sein könnte, die Liebe zu empfinden, die man ihm entgegenbringt. Wer den Mut hat, diese Überlegungen logisch zu Ende zu führen, wird zu der gleichen Forderung gelangen, die unser Leser vertritt.“
Man ist erstaunt, hier eine Argumentation zu finden, die sich häufig in der heutigen Euthanasiediskussion findet. Übrigens lautete der Name der Zeitschrift: „Das Schwarze Korps“, das Kampfblatt der SS.

Gegen Ende 1938 wurde eine Vollmacht des Führers zur Euthanasie der sogenannten „Reichsausschusskinder“ erbeten, „bei der in den Jahren von 1939 bis 1945 in etwa 30 „Kinderfachabteilungen“, die Heil- und Pflegeanstalten angegliedert waren, mindestens 5.000 behinderte (Klein-)Kinder durch überdosierte Medikamentengabe oder Nahrungsmittelentzug umgebracht wurden.“ Hitlers Ermächtigung für das allgemeine, auch Erwachsene einschließende Euthanasieprogramm, das im Oktober 1939 unterfertigt, aber auf 1.September 1939 datiert wurde, lautete: „Reichsleiter Bouhler und Dr.med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“

Nach der Einstellung der Vernichtungstätigkeit in Grafeneck im Dezember 1940 begannen Anfang des folgenden Jahres die Tötungen in Hadamar. Hitler hatte inzwischen entschieden, das fertige „Sterbehilfegesetz“ erst nach dem siegreichen Krieg zu erlassen. Doch wollte man propagandistisch die Bevölkerung auf ein solches Gesetz vorbereiten, nicht zuletzt deshalb, weil der Widerstand gegen „geheime“ Tötungen immer mehr zunahm. Wie sollte vorgegangen werden? Hermann Schweninger, der schon vorher unter Anleitung der Nationalsozialisten Dokumentarfilme über Irrenanstalten gedreht hatte - es sollte insbesondere der Gegensatz zwischen aufwendigen Einrichtungen, schönen Parkanlagen und den Insassen herausgearbeitet werden, wollte die Sterbehilfe als schwieriges, persönliches Problem darstellen, das auf geschickte Weise mit der staatlichen Vernichtung von lebensunwerten Lebens verquickt wurde. Das, was den einzelnen zu einer Entscheidung in Richtung „Gnadentod“ drängt, sollte auch - das war die Intention des Films - dem Staat zugestanden sein. Thomas Heyt, ein Medizinprofessor, tötet nach langen Gewissenskonflikten und den schließlich als erfolglos erkannten Versuchen, durch intensive Forschungsarbeit ein Heilmittel für seine junge Frau Hanna, die an Multipler Sklerose erkrankt ist, zu finden. Thomas wird vor Gericht gestellt. Der Film endet ohne Urteil seitens des Gerichts. Der Zuschauer soll selbst ein solches fällen. Wie suggestiv der Film arbeitet, wird z.B. bei folgender Szene deutlich: eine bei Experimenten, wahrscheinlich beim Einstich einer Nadel verletzte Maus zieht die Hinterbeine etwas nach (bei anderen Einstellungen sieht man Frau Heyt stark hinkend). Die Maus erweckt das Mitleid der Assistentin: „Armes Tier, ich habe dich nicht vergessen“. Sie streichelt die Maus. Sie tötet sie dann mit einer Injektion, wobei die Tötung nur indirekt gezeigt wird: „So, nun bist du von deinen Schmerzen erlöst.“ Der Film „Ich klage an“ hatte von 1940-42 ungefähr 18 Millionen Besucher und erhielt 1941 auf der Biennale zu Venedig den „Preis der Nationen“.
Würde solch ein Film nicht auch heute auf breite Zustimmung stoßen? Der Philosoph Robert Spaemann vergleicht einmal die Art der Begründung für Euthanasie damals und heute und kommt zum Schluss: „Das Argument der Nationalsozialisten war nicht, dass dieses Leben für die Gesellschaft wertlos geworden sei. Ihr Argument war: warum soll die Gesellschaft Opfer bringen für das Leben von Menschen, die selbst von ihrem Leben gar nichts haben? Und dies ist exakt das Argument unserer Euthanasisten!“

Und was den Staat als Vollstrecker des von den Bürgern gebilligten Gnadentodes betrifft, schrieben Kuhse und Singer 1985 bezüglich der Kindereuthanasie: „Weil wir nicht denken, dass neugeborene Kinder ein ihnen innerliches Recht auf Leben haben, sind wir der Auffassung, eine Gemeinschaft sollte eigentlich entscheiden, dass ihre Ressourcen dringender für andere Aufgaben benötigt werden als für die Betreuung neugeborener Kinder, deren Eltern dazu nicht imstande sind.“
Und damals wie heute war es die katholische Kirche, die das jedem menschlichen Wesen eigene Recht auf Leben verteidigt hat. Am 27.11.1940 verurteilte das Hl.Offizium die Tötung von psychisch oder physisch Kranken, die dem Staat zur Last fallen würden, als unvereinbar mit dem Naturrecht und dem positiven göttlichen Recht. In der „Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zur Euthanasie“ vom 20.Mai 1980 wird festgehalten: „Es muss erneut mit Nachdruck erklärt werden, dass nichts und niemand zulassen kann, dass ein unschuldiges menschliches Lebewesen getötet wird, mag es sich um einen Fötus oder einen Embryo, ein Kind, einen Erwachsenen oder Greis, einen unheilbar Kranken oder Sterbenden handeln. Es ist auch niemandem erlaubt, diese todbringende Handlung für sich oder einen anderen zu erbitten, für den er Verantwortung trägt, ja man darf nicht einmal einer solchen Handlung zustimmen, weder explizit noch implizit. Es kann ferner keine Autorität sie rechtmäßig anordnen oder zulassen. Denn es geht dabei um die Verletzung eines göttlichen Gesetzes, um eine Verletzung der Würde der menschlichen Person, um ein Verbrechen gegen das Leben, um einen Anschlag gegen das Menschengeschlecht.“
 

Literatur:
ERNST KLEE, "Euthanasie" im NS-Staat. Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" , Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1985, 21
HENRY FRIEDLANDER, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin Verlag, Berlin 1997, 51