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Darf der Staat öffentliche Gottesdienste verbieten?

Wie stehen Religion und Staat zueinander? Darf die Kirche politische Entscheidungen kritisieren? Und umgekehrt: Darf sich der Staat in religiöse Belange einmischen und z. B. das kirchliche Leben zugunsten des Gesundheitsschutzes einschränken?
 

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Geschichtlicher Überblick

Seit es in der Geschichte organisierte und geführte Gemeinschaften gab, stellte sich die Frage nach dem richtigen Verhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Obrigkeit oder, nach heutiger Sichtweise ausgedrückt, nach dem richtigen Verhältnis von Staat und Kirche. Gerade bei den sehr religiös geprägten „alten Völkern“, war die rechte Antwort auf diese Frage von entscheidender Bedeutung. Nicht selten wurde diese Frage dadurch gelöst, dass die eine Obrigkeit auch die Autorität der anderen für sich vereinnahmte, also einerseits die irdische Obrigkeit sich „vergöttlichte“ oder hohepriesterliche Stellung für sich beanspruchte oder andererseits die Priesterschaft sich irdische Macht aneignete (Stichwort „Theokratie“).

Im katholischen Bereich stellte sich diese Frage erst, als das Christentum um das Jahr 391 unter Kaiser Theodosius I. zur Staatsreligion wurde. Schon bald gestaltete sich das Verhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt problematisch und spitzte sich vor allem dadurch zu, dass die Kaiser zunehmend im fernen Konstantinopel (später Byzanz) residierten und dort geneigt waren, eine Art Cäsaropapismus zu vertreten. Papst Gelasius I. (+496) bemerkte diese Neigung der byzantinischen Kaiser und formulierte erstmals die Beziehung zwischen Kirche und Staat. In einem Brief an Kaiser Anastasios lehrte er, Gott habe dem Kaiser die Leitung der Welt (regalis potestas) und den Bischöfen die geistliche Autorität (auctoritas sacrata pontificum) übergeben. Auf der Basis dieser Formulierung entwickelte sich später die sog. „Zwei-Schwerter-Theorie“. Dies soll als kleiner historischer Überblick genügen.

 

Die unfehlbare Lehre der Kirche

Die endgültige Zusammenfassung der kirchlichen Lehre zum Verhältnis zwischen Staat und Kirche haben wir Papst Leo XIII. (+1903) zu verdanken. In seiner Enzyklika Immortale Dei (1885) schrieb er Folgendes: „So hat denn Gott die Sorge für das Menschengeschlecht zwei Gewalten zugeteilt: der geistlichen und der weltlichen. Die eine hat er über die göttlichen Dinge gesetzt, die andere über die menschlichen. Jede dieser beiden hat auf ihre eigene Art eine Hoheit, jede hat fixierte Grenzen, innerhalb derer sie sich bewegt, Grenzen, die von ihrer Natur und der ihnen jeweils eigenen Sache festgelegt sind, sodass dort – sozusagen wie bei einer Umlaufbahn – bestimmt ist, von welchen Handlungen jede durch ein ihr eigenes, „ihr angeborenes“ Recht Gebrauch macht.“ (Nr. 13) Desweiteren erklärte derselbe Papst in der Enzyklika Sapientiae christianae (1890): „Gewiss hat die Kirche wie der Staat ihren eigenen Machtbereich; darum sind beide in der Ordnung ihrer Angelegenheiten voneinander unabhängig, freilich innerhalb der durch den beiderseitigen Zweck bestimmten Grenzen. Hieraus folgt aber keineswegs, dass beide von einander getrennt, noch weniger, dass sie im Widerspruch mit einander sein sollen.“ (Nr. 30)

Das bedeutet also, dass ein Katholik sowohl unter der Gewalt der Kirche als auch unter der des Staates steht. Er gehört also zwei Gesellschaften an, die beide selbstständig und unabhängig sind und beide in ihrem Bereich höchste Autorität beanspruchen können. Als Bürger ist der Katholik der zivilen Obrigkeit unterstellt, als Getaufter ebenso dem Papst.

Leider sind aufgrund der menschlichen Schwäche Grenzüberschreitungen in diesem Verhältnis möglich, wie die Geschichte es auch immer wieder gezeigt hat. Solange aber jede Gewalt in ihrem Zuständigkeitsbereich bleibt, werden diese auch nicht im Widerspruch zueinander handeln. Wir wissen, dass Politiker der Kirche Einmischung in die politische Sphäre vorwerfen, wo es um Fragen wie Ehescheidung, Empfängnisverhütung, Abtreibung, Gentechnologie, Gendermainstreaming und ähnliches geht. Tatsächlich aber entscheiden die beiden Gewalten unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten. Die Einmischung in den anderen Bereich ist hier also nicht prinzipiell gegeben, sondern nur eine scheinbare. Es wird zwar über die gleiche Thematik entschieden, aber eben aus einem anderen Gesichtspunkt heraus.

 

Die Schein-Einmischung der Kirche in die Politik

Inwiefern die Kirche auch Kompetenzen im politischen Bereich hat, bringt Papst Pius XII. an Pfingsten 1941 in seiner berühmten Radiobotschaft zur Sprache: „Zum unanfechtbaren Geltungsbereich der Kirche aber gehört es, in denjenigen Belangen des sozialen Lebens, die an das Gebiet der Sittlichkeit heranreichen oder es schon berühren, darüber zu befinden, ob die Grundlagen der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung mit der ewig gültigen Ordnung übereinstimmen, die Gott, der Schöpfer und Erlöser, durch Naturrecht und Offenbarung kundgetan hat.“

Die Kirche hat es mit dem Menschen als moralischem Wesen zu tun, der für das himmlische Leben erschaffen wurde und vor Gott für sein irdisches Leben Rechenschaft ablegen wird. Insofern hat die Kirche auch Einfluss auf das soziale Leben der Menschen. Wenn nun Politiker Gesetze erlassen, die dem Naturrecht widersprechen, hat die Kirche nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, solche Gesetze zu brandmarken. Papst Johannes Paul II. schreibt im Jahr 1993 dazu in seiner Enzyklika Veritatis splendor: „Nicht nur im Bereich des Glaubens, sondern auch und untrennbar davon im Bereich der Moral greift das Lehramt der Kirche ein, dessen Aufgabe es ist, durch das Gewissen der Gläubigen bindende Urteile jene Handlungen zu bezeichnen, die in sich selber mit den Forderungen des Glaubens übereinstimmen und seine Anwendung im Leben fördern, aber auch jene Handlungen, die aufgrund ihres inneren Schlechtseins mit diesen Forderungen unvereinbar sind.“ (Nr. 110)

Bereits im Jahr 1963 fasste Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Pacem in terris die Lehre folgendermaßen zusammen: „Da die staatliche Gewalt von der Ordnung der geistigen Wirklichkeit gefordert wird und von Gott ausgeht, können Gesetze oder Anordnungen die Staatsbürger innerlich nicht verpflichten, wenn die Staatslenker gegen diese Ordnung und deshalb gegen Gottes Willen Gesetze erlassen oder etwas vorschreiben; denn man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen (Apg 5, 29); in diesem Fall hört die Autorität ganz auf“ (Nr. 51). Solche lehramtlichen Entscheidungen betreffen den Menschen, insofern er eben Mensch ist, nicht insofern er Bürger eines irdischen Gemeinwesens ist.

 

Die Schein-Einmischung des Staates in die Religion

Wie ist es aber umgekehrt? Könnte der Staat Gesetze erlassen, die den Gläubigen in seiner religiösen Praxis betreffen und denen er Folge zu leisten hat, und dadurch so eine Art Scheineinmischung des Staates in das Religiöse vorliegen würde?

Das Ziel des Staates ist das Gemeinwohl, diesbezüglich hat er seine Kompetenz und Legitimität. Das Gemeinwohl ist ein irdisches Ziel, das dem „natürlichen“ Bereich des Menschen entspricht. Gewiss ist das irdische Ziel der übernatürlichen Bestimmung des Menschen prinzipiell untergeordnet, wie es bereits Papst Gelasius I. klar ausdrückte. Dennoch hat der Staat Souveränität in seinem Bereich und seinem Ziel folgend, wie es Papst Leo XIII. anerkannte. Kein Katholik wird zur Zeit eines Krieges seine Militärpflicht verweigern, weil er sich an den von Jesus Christus gemahnten Frieden halten möchte, oder weil er im Kriegsdienst seine sonntägliche Messpflicht nicht erfüllen kann. Wenn der Staat Gesetze oder Verordnungen erlässt, die alle Bürger betreffen, um das Gemeinwohl zu schützen oder zu fördern, dann haben alle Bürger zu gehorchen. Der hl. Apostel Paulus schreibt im Römerbrief dazu: „Jedermann ordne sich der obrigkeitlichen Gewalt unter; denn es gibt keine Gewalt, die nicht von Gott ist. Die bestehenden sind von Gott eingesetzt. Wer sich daher der Gewalt widersetzt, widersetzt sich der Anordnung Gottes; die sich aber widersetzen, ziehen sich selbst das Gericht zu“ (13, 1f). Paulus schreibt hier natürlich von der damals gegebenen Obrigkeit, die heidnisch war und Christen zu verfolgen begann, wie Paulus auch am eigenen Leib erfahren hat. Und dieser Obrigkeit also soll der Christ grundsätzlich gehorchen, und zwar nicht nur nach Gutdünken, sondern im Gewissen.

 

Mögliche Fehlanwendungen

Obwohl diese Lehre klar und einfach ist, fällt ihre Anwendung zuweilen schwer. Beschränken wir uns hier auf die möglichen Grenzüberschreitungen des Staates in religiöse Angelegenheiten. (Ob und wie man auf Gesetze oder Verordnungen, die das christliche Leben stören, reagieren soll, ist im übrigen eine Frage der Klugheit und nicht von persönlichen Vorstellungen unter dem Vorwand des Glaubens.)

Es gilt also die Frage zu beantworten: Wann soll oder darf man dem Staat gegenüber ungehorsam sein? Hier gilt zunächst die feste Regel, die bereits von den Kirchenlehrern vorgetragen und von allen Heiligen praktiziert worden ist: Nur gegenüber einem Befehl oder einer Anordnung, die eine sichere Sünde verlangt, ist Ungehorsam erlaubt, ja sogar verpflichtend.

Was aber ist im Zweifel zu tun, wenn eine Anordnung die Rechte der Christen irgendwie zu berühren scheint, aber man sich nicht sicher ist? Es meldet sich lediglich eine Art schlechtes Gefühl. Die Klugheitsregel lautet hier: Im Zweifel hat man sich zugunsten des Vorgesetzten und seiner Anordnung zu entscheiden. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Der Obere verfügt normalerweise über mehr Informationen als der Untergebene und hat auch einen höher entwickelten Sinn für das Gemeinwohl als dieser. Wenn Petrus in einem seiner Briefe lehrt: „Ihr Sklaven, unterwerft euch in aller Ehrfurcht euren Herren, nicht nur den gütigen und freundlichen, sondern auch den launenhaften“ (1Petr 2,18), sollte man diese Worte nicht auch auf einen Staat anwenden können, der weder unsere Einstellung noch unsere Weltanschauung teilt? Bedeuten aber die Worte des hl. Petrus andererseits, dass der Untergebene, der Bürger, nichts mehr zu sagen hat und somit auch nichts sagen darf? Die klassische Lehre der Moraltheologie sagt, dass der Untergebene sogar die Pflicht habe, seinen Vorgesetzten zu informieren, wenn er meint, dem Vorgesetzten fehle es an Wissen, um ein besseres und fundierteres Urteil fällen zu können. Das Ziel dieser Handlung ist jedoch nicht, den Vorgesetzten lediglich dazu zu bringen, die eigene Meinung zu übernehmen. Vielmehr muss es darum gehen, dass er aufgrund dieser Informationen ein besseres Urteil fällen wird. Wenn der Untergebene seine Kenntnisse weitergegeben hat, soll er dann aber auch dem Urteil Gehorsam leisten.

Natürlich ist es heute vielfach nicht möglich, den entsprechenden Vorgesetzten persönlich zu erreichen. Wer hat schon die Gelegenheit, mit maßgebenden Politikern über die Probleme der Welt zu sprechen? Man mag geteilter Meinung darüber sein, ob aufgrund dieser Schwierigkeit Straßenproteste und Demonstrationen kluge Auswege sind.

Es ist also kein blinder Gehorsam gefordert, aber ein Mindestvertrauen in die Regierenden scheint klüger zu sein als ein völliges Misstrauen. Die Vermutung, die Regierenden seien beinahe immer willfährige Werkzeuge in den Händen des Teufels, ist eine nicht seltene Fehlhaltung in gewissen katholischen Milieus. Nein, die zivile Obrigkeit erlässt unpopuläre Maßnahmen nicht zu dem Zweck, den Bürger zu quälen oder zu erniedrigen, sondern weil sie meint, dass ihre Regelungen die richtigen sind. Irrt sie dabei? Das ist möglich. Man darf aber nicht vergessen, dass schlecht gelöste Krisensituationen die verantwortlichen Politiker ihren Posten in der Regierung kosten kann, da die Bürger sie nicht nur wählen, sondern auch abwählen können. Daher verbietet es sich für die Politiker, einfach nur „tyrannisch“ zu handeln.

 

Darf der Staat nun Gottesdienste in Kirchen verbieten?

Nachdem die klare Unterscheidung der Kompetenz der beiden Gewalten gemacht und die Möglichkeiten der Scheineinmischungen in den Zuständigkeitsbereich der anderen geklärt wurde, können wir nun viel besser auf die Frage eingehen, ob der Staat die Kirchen zuschließen darf.

Der Gesichtspunkt des Staates in dieser Angelegenheit (Coronavirus) ist es, die Ausdehnung der Krankheit, die sich durch Kontakt ausbreitet, zu hindern. Wenn der Staat nun allein die Kirchen zuschließen, gleichzeitig aber z. B. die Stadien zu großen Sportereignissen geöffnet lassen würde, dann wäre es klar, dass das Verbot die Religion betrifft; nicht das Gemeinwohl würde dann erstrebt, sondern der Glaube unterdrückt. Unter derartigen Voraussetzungen wäre Widerstand an sich gerechtfertigt. Ist das nun aber im Zusammenhang mit den Maßnahmen gegen das Coronavirus der Fall? Die Antwort lautet eindeutig: Nein. Damit beeinträchtigende Schutzmaßnahmen, die auch die religiöse Praxis stören, die erlaubterweise vorgenommen wurden, müssen alle Bürger betreffen, da die Maßnahmen ja dem Gemeinwohl dienen sollen. Trifft das zu? Die Antwort: Ja. Veranstaltungen aller Arten, Sportspiele, Diskotheken usw. wurden verboten, nicht nur die religiösen. Und somit ist die Frage grundsätzlich geklärt: die Schutzmaßnahmen betreffen alle Bürger und sind fürs Gemeinwohl erlassen worden.

Kann aber die Regierung irren? Können ihre Informationen falsch sein? Sind die Maßnahmen vielleicht übertrieben? Selbstverständlich! Auch Politiker sind Menschen. Sie müssen sich aber um eine gute Politik mit vernünftigen und angemessenen Maßnahmen bemühen, da sonst ihr Posten gefährdet ist. Es wird ja ständig darüber spekuliert, ob die Krisenregelungen verschiedener Politiker, z. B. von Trump in den USA, von Macron, Johnson, Erdogan, Putin usw. günstig oder ungünstig im Hinblick auf ihre Wiederwahl sein wird. Daher können sich Politiker keine Willkürmaßnahmen leisten und handeln stattdessen eher „gewissenhaft“ angesichts des gesunden Menschenverstandes ihres Wahlvolkes. Hört man die Meinungen der Experten und Scheinexperten, so vertreten sie alles – und auch jeweils das Gegenteil davon. Wer also liegt richtig? Der Regierung muss unter solchen Umständen eine gewisse Fehlerspanne einräumen, wobei auch jeder Bürger sich die Frage stellen sollte, ob er sich sicher ist, eine fundiertere Meinung als die von so vielen Seiten informierte Regierung zu haben.

Am Ende sei eine weise Bemerkung des hl. Thomas von Aquin angeführt. In einem Zusammenhang, in dem er von illegitimen Regierenden und ungerechten Dekreten spricht, lehrt er, dass es auch ihnen gegenüber vernünftig sei, zu gehorchen. Weshalb? „Um Ärgernis oder um eine Gefahr zu meiden“ (II.II. q.104 a.6 ad 3). So der Heilige.

Der Staat darf also für das Gemeinwohl Gottesdienste verbieten, wenn das Gegenteil zur Ausbreitung der Krankheit führt. Dies ist unter katholischer Lehre zweifellos und prinzipiell. Sind die verschiedenen Schutzmaßnahmen klug? Darüber darf man streiten.

 

Autor: Pater Dr. Gabriel Baumann FSSP