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Religion und Wahrheit

P. Bernhard Gerstle FSSP

Ist es nicht Anmaßung, in Sachen Religion von Wahrheit zu sprechen, gar zu behaupten, in der eigenen Religion die Wahrheit erkannt zu haben, die eine, die zwar Wahrheitserkenntnis bei anderen nicht außer Kraft setzt, aber die versprengten Stücke zur Einheit zusammensammelt? Heute ist es zu einem Slogan von unwiderstehlicher Durchschlagskraft geworden, diejenigen als zugleich einfältig und arrogant abzuweisen, denen man nachsagen darf, sie glaubten, die Wahrheit zu „haben”. Solche Leute, so scheint es, sind dialogunfähig und letztlich nicht ernst zu nehmen. Die Wahrheit „habe” eben niemand. Wir alle könnten nur immer auf der Suche sein. Aber- so muß man dagegen fragen - was ist das für eine Suche, die nie ankommen darf? Sucht sie wirklich, oder will sie in Wahrheit gar nicht finden, weil es das Gefundene nicht geben darf?
Was hier der damalige Kardinal Ratzinger in einem Artikel vom 1. März 2003 in der „Tagespost” unter dem Titel: „Die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche” anspricht, deckt sich weitgehend mit der Mentalität heutigen Denkens. Es darf keine verbindliche Aussage, keine Wahrheit geben, die für alle gilt und an der sich alle auszurichten haben. Seit dem so einflußreichen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) aus Königsberg ist der Agnostizismus zur beherrschenden Philosophie geworden, die inzwischen auch das einfache Volk weitgehend übernommen hat. Der Agnostizismus leugnet, daß es eine objektive Wahrheit gibt. Sie ist für ihn immer subjektiv, relativ, nicht absolut, da es nach ihm eine sichere Wahrheits- und Gotteserkenntnis nicht gibt. Gegen diese Auffassung hat sich u. a. das I. Vatikanische Konzil ausgesprochen und als Glaubenssatz erklärt: „Gott ist mit dem Lichte der natürlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen (Schöpfung) mit Sicherheit zu erkennen!”

Die Ringparabel

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) hat die Leugnung einer absoluten Wahrheit in seinem Werk „Nathan der Weise” in der sogenannten „Ringparabel” literarisch verarbeitet. Dieses Werk gehört seit vielen Jahren zum Pflichtprogramm der Gymnasiasten und trägt das Seine dazu bei, jungen Leuten klar zu machen, wie abwegig es ist, daß die katholische Kirche in Fragen des Glaubens und der Moral einen Anspruch auf absoluten Gehorsam erhebt.  Als Aufklärer vertritt Lessing die Auffassung: „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.” Diese Meinung ist heute Allgemeingut geworden.
Seine Quintessenz in der Ringparabel: Das Christentum, das Judentum und der Islam behaupten alle die wahre Religion zu sein. Doch welches letztlich die wahre Religion (in der Parabel: der echte Ring) ist, weiß keiner. Es soll jeder so tun, als habe er die wahre Religion und mit Eifer danach streben, sie so gut er kann zu leben.
 

Die Überzeugung belebt

Daß dies in der Praxis nicht funktioniert, liegt auf der Hand und wird auch durch die Erfahrung bestätigt. Schöne Theorien, von denen man letztlich nicht überzeugt ist, haben keine Durchschlagskraft. Wäre das Christentum nur eine vage Vermutung, hätten wir keine Sicherheit, hier die Wahrheit gefunden zu haben, könnten wir auch nicht danach leben. Denn der christliche Glaube schließt Opfer, Verzicht und Selbstverleugnung ein, das „Ja” zum Kreuz. Ohne feste Überzeugung, daß dies der Weg zum ewigen Leben ist, wäre aber niemand imstande, diesen Weg zu gehen und dürfte man ihn auch niemandem abverlangen. Zeigt uns das nicht auch die Erfahrung? Dort wo die feste Glaubensüberzeugung verloren geht, hört auch sehr bald die christliche Glaubenspraxis weitgehend auf. Auf einem bloßen „meinen” und „vermuten” (mit „glauben” nicht vereinbar) läßt sich kein Leben aufbauen, das zuweilen schwere Opfer und Verzicht abverlangt. Warum sollte z.B. jemand in einer unglücklichen Ehe ausharren und nicht das Glück bei einem anderen Partner suchen? Warum sich die Mühe machen, in die Kirche zu gehen, sich Zeit zu nehmen für das Gebet, auch dann, wenn man nicht das Bedürfnis danach hat? Warum sich nicht wie die meisten Menschen hier auf Erden ausleben und den Trieben freien Lauf lassen, wenn man nicht sicher ist, ob es ein Leben nach dem Tod gibt bzw. wenn man jenen modernen Theologen glaubt, die behaupten, daß sowieso alle in den Himmel kommen? Wenn sich schon gläubigen Menschen solche Fragen als Versuchung aufdrängen, wie sollten dann jene derlei Versuchungen widerstehen, die von der Wahrheit ihres Glaubens nur wenig überzeugt sind und für die alles nur relativ ist?


Christus - die Wahrheit

Für den hl. Apostel und Evangelisten Johannes steht fest: „Das ist der Sieg, der die Welt überwindet, euer Glaube!” (1 Joh. 5,4) Jesus läßt keine Zweifel aufkommen, indem er sprach: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich!” (Joh. 14,6) Er sagte nicht: „Ich bin ein möglicher Weg...”, sondern: „Ich bin der Weg...” Es hat nichts mit Arroganz zu tun, wenn wir davon überzeugt sind, daß das Christentum die einzig wahre Religion und darüber hinaus die katholische Kirche der „mystische Leib Christi” ist. Sie hat der Herr vor seiner Heimkehr zum Vater gegründet und in ihr ist Er geheimnisvoll gegenwärtig bis zu Seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten. Nur dieser Kirche ist der Heilige Geist verheißen, der sie „in alle Wahrheit einführen wird” (Joh. 16,13). Oder sollen wir jedes Mal lügen, wenn wir das Glaubensbekenntnis sprechen: „Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche...”?
Hören wir nochmals in den oben erwähnten Artikel von Kardinal Ratzinger hinein: „Mir scheint, man müsse die Sache mit der Anmaßung umkehren: Ist es nicht Anmaßung zu sagen, Gott könne uns nicht das Geschenk der Wahrheit machen? Er könne uns die Augen nicht öffnen? Ist es nicht eine Verachtung Gottes zu sagen, wir seien nun einmal blind geboren, und Wahrheit sei nicht unsere Sache? Ist es nicht eine Degradierung des Menschen und seiner Sehnsucht nach Gott, uns nur als ewig im Dunkel Tastende anzuerkennen? Und damit geht dann Hand in Hand die wirkliche Anmaßung, daß wir eben selber Gottes Stelle einnehmen und bestimmen möchten, wer wir sind und was wir tun und aus uns und der Welt machen wollen. Im übrigen schließen sich Erkenntnis und Suchen nicht aus. Es gibt bei Gregor von Nyssa wie bei Augustinus herrliche Texte, die die Unendlichkeit von Gottes Größe herausstellen und sagen, daß alles Finden tieferes Suchen auslöst und daß es unsere ewige Freude sein wird, Gottes Antlitz zu suchen, das heißt, in immer neuem freudigen Entdecken unendlich ins Unendliche hinein zu wandern und so das Abenteuer der ewigen Liebe als Antwort auf unseren Durst nach Glück zu empfangen. Freilich, den Nichtchristen gegenüber mag unser Glaube, daß Jesus nicht ein Erleuchteter bloß, sondern der Sohn, das Wort selber ist, auf das alle anderen Erleuchteten und alle anderen Worte zugehen, als Anmaßung erscheinen. Umso dringlicher ist es, daß wir solche Erkenntnis nicht als unsere Leistung ansehen, sondern der Wahrheit treu bleiben, dass die Begegnung mit dem Wort auch für uns nur Geschenk ist, das uns gegeben wurde, damit wir es weitergeben, umsonst, wie wir es empfangen haben. Gott hat eine Wahl getroffen, die einen für die anderen und alle füreinander eingesetzt, und wir können nur in Demut uns als unwürdige Boten erkennen, die nicht sich selber verkündigen, sondern mit heiliger Scheu von dem sprechen, was nicht das Unsrige ist, sondern von Gott kommt”.
Nur auf der Basis einer festen Glaubensüberzeugung ist Mission gerechtfertigt und möglich. Wäre das Christentum nicht die (einzig) wahre Religion, hätte Christus den Missionsauftrag an seine Jünger und Apostel vor seiner Himmelfahrt nie erteilen dürfen. Wenn heute der Missionseifer zum Teil erlahmt ist und sich mancherorts mehr oder weniger in Entwicklungshilfe verflüchtigt, dann liegen die Ursachen auf der Hand. Als überzeugte Katholiken kann und darf es uns jedenfalls nicht gleichgültig sein, ob unsere Mitmenschen in Irrtum und Sünde leben, ob sie gerettet werden oder verloren gehen. Darum ist unser Glaubenszeugnis mehr denn je gefordert. Freilich muß dieses Zeugnis im Geiste der Demut und Liebe, ohne jeden Fanatismus und Überheblichkeit erfolgen, wie dies auch Kardinal Ratzinger in seiner unnachahmlichen Sprache so treffend beschrieben hat.