◀◀ zurück zur Übersicht
 

Überlieferung aus Offenbarung –
Aspekte des Traditionsverständnisses von Benedikt XVI.

Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung betonte einst Kardinal Joseph Ratzinger: „Das Christentum wollte immer mehr sein als nur Tradition.“ Andererseits wurde der bayerische Theologe wachsend als Verfechter des Prinzips Überlieferung wahrgenommen. So zeigt schon die Zusammenschau dieser Befunde, wie anspruchsvoll das Thema Tradition ist und wie vielschichtig und differenziert Ratzinger es betrachtet.

von P. Dr. Daniel Eichhorn FSSP

 

© Shutterstock.com / Jeffrey Bruno

 

In einem Schreiben an die katholische Wochenzeitung „Tagespost“ legte der emeritierte Papst Benedikt XVI. Kriterien für einen katholischen Journalismus vor: Neben der Treue zum katholischen Glauben nennt er hier ausdrücklich die Berücksichtigung der „Tradition der Kirche“. Als Förderer der kirchlichen Tradition weist Benedikt XVI. auch dessen Stärkung der traditionellen Form der Römischen Liturgie – vor allem durch das Motu proprio Summorum Pontificum (2007) – aus.

Anlässlich des Todes dieses bekanntermaßen traditionsbewussten Theologen und Papstes seien unvollständig einige Grundzüge seines Verständnisses der Überlieferung im theologischen Sinn dargelegt. Wie Ratzinger verwenden wir hier die Begriffe Tradition und Überlieferung gleichwertig. Ratzinger selbst indes bevorzugt den Ausdruck „Überlieferung“, sicherlich deshalb, weil der Begriff „Tradition“ leicht aus bloßes „Brauchtum“ verkürzt wird. In diesem Sinne wollte das Christentum tatsächlich „immer mehr sein als nur Tradition.“
 

Offenbarung und Tradition

Mitte der 1950er-Jahre gipfelte Ratzingers theologische Ausbildung in seinem Münchener Habilitationsprojekt. Der noch nicht 30jährige Priester und Dozent sollte anhand des Franziskaners Bonaventura von Bagnoregio (1221-74) die Themenfelder „Offenbarung“ und „Geschichtstheologie“ in der Theologie des Hochmittelalters erforschen (vgl. JRGS 2). Öfter berührten diese Studien auch den Traditionsbegriff, so dass sie nicht nur sein Verständnis der Selbstmitteilung Gottes („Offenbarung“), sondern auch der Überlieferung im theologischen Sinn nachhaltig prägten.

Daher betont Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI., mit vielen bewährten katholischen Theologen, die bleibende Bedeutung der Überlieferung. Zugleich zeichnet sein diesbezügliches Denken sich durch einen entscheidenden Gesichtspunkt aus: Gestützt auf Bonaventura zeigt Ratzinger die fundamentale Bedeutung des Offenbarungsereignisses für Kirche, Theologie, Überlieferung, Schrift etc. All diese genannten Wirklichkeiten verdanken sich demnach nicht einfach dem Tun der Menschen, sondern dem offenbarenden Wirken und Sprechen Gottes in der Geschichte. Letztlich versteht Ratzinger das Prinzip Tradition im Christentum vom Geschehen des sich selbst mitteilenden Gottes her. Überlieferung der Apostel und Überlieferung der Kirche sind direkt oder indirekt als Frucht des Offenbarungsgeschehens zu deuten und müssen daher immer in dieser Perspektive betrachtet werden. Ratzingers Beitrag zur Theologie des 20. und des 21. Jahrhunderts liegt somit nicht zuletzt in der Erneuerung des Offenbarungsbegriffs und – von dort her – in der Erneuerung des Traditionsbegriffs. „Erneuerung“ meint dabei nicht einfach „Neuerung“, sondern Ansatz beim Ursprünglichen, neue und so heute verständliche Aussage des immer Gültigen. Hierin liegt ein ganz wesentlicher Unterschied.
 

Tradition in und durch die Kirche

Die Offenbarung ist in Ratzingers Sicht nicht einst geschehen und damit bloße Vergangenheit, sondern in der Kirche bleibend gegenwärtig. Die eigentliche Heimat des Wortes Gottes ist die Kirche, die diese Offenbarung im Strom der Tradition weitergibt.

Offenbarung und Kirche, Glaube, Schrift und Tradition hängen für Ratzinger somit engstens zusammen – dennoch ist keines dieser Elemente mit dem anderen einfach identisch. Die lebendige Gegenwart der Offenbarung und die kontinuierliche Weitergabe der Offenbarung geschehen in und durch die Kirche und deren große apostolisch-kirchliche Tradition. Die Tradition ist für Ratzinger im Grunde die bleibende Gegenwart der Offenbarung in der Kirche.

Diese Sichtweise hat entscheidende Folgen: Die wohl zentralste Aufgabe der apostolischen bzw. kirchlichen Tradition sieht Ratzinger im rechten Verständnis der Heiligen Schrift (vgl. JRGS 2, 66). Die Kirche Christi überliefert im Heiligen Geist vor allem das Denken und Wollen, Sprechen und Handeln Jesu Christi, also „die Offenbarung“, das Wort Gottes – insbesondere die offenbarten Wahrheiten des Glaubens und der rechten Sittlichkeit. Im Licht dieser Tradition – dieses von Generation zu Generation im Rahmen der Gesamtkirche glaubend, lebend und lehrend weitergegebenen, genuin christlichen Geistes – erschließt sich die Heilige Schrift: „Die Schrift ist Gottes Offenbarung nur in der lebendigen Kirche Gottes. […] Das Wort Gottes ist gegeben in der überliefernden Tat der Kirche“ (ebd., 67). Wie Ratzinger betont, stammen Tradition und Schrift aus demselben Offenbarungsgeschehen und sind somit bei aller Verschiedenheit doch eng verwandt und aufeinander bezogen: Die Beziehung der Überlieferung zur Schrift besteht wesentlich darin, dass sie die Bibel interpretiert – sie ist somit im Hinblick auf die Schrift interpretierende Tradition (traditio interpretativa sive hermeneutica). Somit umfasst Tradition mehr als die Schrift, „denn dass es nicht für jede katholische Lehre einen Schriftbeweis gibt, wird im Ernst niemand bestreiten können“. Andererseits gilt: Die Schrift „ist“ das Wort Gottes, die Tradition vermittelt es nur.

Diese Überlieferung ist wesentlich personal verfasst, nämlich an die Person des Bischofs gebunden. Die Tradition vollzieht sich somit nicht zuletzt in Gestalt der sog. „apostolischen Nachfolge“ (successio apostolica), d. h. durch die kirchliche Sendung und die Weihe zum Bischof. Aus dieser inneren Beziehung der Tradition mit dem Amts des Bischofs und des Papstes ergibt sich in Ratzingers Sicht etwas Zweifaches: Einerseits schöpft der Bischof bzw. die Kirche Offenbarung bzw. Glaube aus Tradition und Schrift. Andererseits hat das kirchliche Lehramt hinsichtlich Tradition und Schrift eine gewisse von Gott gegebene Autorität hinsichtlich der rechten Auslegung und Anwendung von Schrift und Tradition. Diese kirchliche Autorität ordnet laut Ratzinger die Kirche Schrift und Tradition nicht über, sondern stellt ein Amt des Dienstes am Wort Gottes dar.

In direkter oder indirekter Abhängigkeit vom Bischof geschieht das aktive Tradieren in der Kirche zudem durch die Tätigkeiten der Priester, Katecheten, Eltern, Lehrer etc. Dazu gehört schließlich auch das Festhalten an der Vielzahl bewährter kirchlicher Traditionen und Gebräuche, wenngleich die „große Tradition“ weitaus mehr als dergleichen Gebräuche umfasst. Sodann vollzieht sich Tradition der Kirche laut Ratzinger wesentlich durch die Feier der Liturgie. Seit Jahrzehnten war für Ratzinger die Förderung und die Feier der überlieferten Form der römischen Liturgie in der Kirche ein Garant für die Treue der Kirche zu Gott und auch zu sich selbst. Einer „Hermeneutik des Bruchs“ stellte er daher eine „Hermeneutik der Reform“ entgegen: Die Kirche ist eine und immer dieselbe, in ihr setzt sich – trotz aller Irrungen und Wirrungen der Menschen in der Kirche – der eine, große Traditionsstrom durch die Jahrhunderte hin fort.
 

Unterschiedliche Formen der Tradition

Auch im Sinne Ratzingers sei an eine klassische Unterscheidung des Phänomens Tradition erinnert: Die von Gott, von Christus und daher von den Aposteln und Apostelschülern herkommende apostolische Überlieferung (traditio apostolica) umfasst z. B. das dreistufige Weiheamt bzw. die Unterscheidung von geweihten Amtsträgern und getauften (und gefirmten) „Laien“, Materie und Form der Sakramente; Gebet nach Osten, Fasten und Freitagsopfer und grundsätzlich auch der Zölibat der Bischöfe und Priester und in gewisser Weise einfach grundlegende christlich-katholische Anschauungen. Die kirchliche Tradition (traditio ecclesiastica) indes wird sinnvollerweise in zwei Bereiche unterteilt: Manches in der Kirche trägt das apostolische Erbe weiter und bildet insofern eine apostolisch-kirchliche Mischtradition; hierzu wird man wohl die Praxis der Kindertaufe rechnen dürfen, da uns eindeutige Belege zwar nicht aus apostolischer, aber aus frühchristlicher Zeit vorliegen. Auch weitere, grundlegende und unaufgebbare theologische, liturgische und geistliche Grundpositionen sind Teil des dieses großen apostolisch-kirchlichen Traditionsstroms (z. B. sog. Theologoumena; das Kreuzzeichen, der Römischen Messkanon uvm.). Innerhalb dieser großen Tradition bestehen sodann die nur kirchlichen Traditionen (traditiones mere ecclesiasticae). Sie gründen nicht direkt auf apostolischem Erbe, sind also meist späteren Datums und eher praktischer Natur bzw. betreffen Bereiche wie Frömmigkeit, Disziplin, Askese etc. Dazu zählen Dinge wie Rosenkranzgebet, Gestalt und Farben liturgischer Gewänder, Anzahl der Kardinäle, einzelne Riten und Bestimmungen zur Papstwahl; aber auch Gebräuche wie Kirchenlieder, Adventskranz, Christbaum, Sternsinger uvm. Um diese kirchlichen Praktiken und Usanzen von der Tradition im eher theologischen Sinn zu unterscheiden, spricht man hierbei häufig von „Traditionen“ im Plural, im Französischen gibt es entsprechend die Unterscheidung zwischen der großgeschriebenen „Tradition“ und „les traditions“. Die Abgrenzung dieser Bereiche voneinander sowie die genaue Zuordnung eines Sachverhalts zu diesen Bereichen sind mitunter schwierig.
 

Sachgemäße Traditionskritik

Hinsichtlich dieser rein kirchlichen Traditionen kennt Ratzinger einerseits eine innere Zuneigung, zugleich aber auch ein waches kritisches Bewusstsein. Oben wurde gezeigt: Ratzinger denkt Tradition im theologischen Sinn zunächst vom Offenbarungsgeschehen – vom sich offenbarenden Gott und seinem offenbarten Willen – her. Deshalb betont er die grundlegende und unaufhebbare Bedeutung der Überlieferung. Zugleich folgen aus diesem offenbarten Ursprung laut Ratzinger Kriterien zur Unterscheidung wahrer und falscher Tradition: Ratzinger ging es immer auch um diese bloß kirchliche Überlieferung – zugleich aber vertritt er auf dieser Ebene auch eine sachgemäße Kritik gegenüber irgendwann neu eingedrungenen, problematischen Gebräuchen. Als junger Theologe etwa äußerte er solche Traditionskritik – mit gutem Grund – gegenüber überspannten Frömmigkeitsformen in der spätmittelalterlichen Kirche. Was an Christentum, Kirche und Tradition der Offenbarung Gottes entspricht oder ihr zumindest nicht widerspricht, kann als rechte kirchliche Tradition gelten. Allerdings dringen in die Kirche im Laufe ihrer Geschichte immer wieder fragwürdige Gebräuche ein; früher oder später treten dann echte kirchliche Reformbewegungen auf den Plan, die solche missbräuchlichen Gebräuche, also falsche oder fragwürdige Traditionen bekämpfen. Was dem Willen Gottes und dem natürlichen Recht klar entgegensteht, ist als verderbte Tradition aus der Kirche auszuscheiden. Logischerweise kann dies niemals eindeutig apostolische Traditionen betreffen, sondern eben nur problematische Anteile, wie sie sich in der Kirche immer wieder ausbreiten.

In diesem Sinne verweist Ratzinger auf eine Aussage des früchristlichen Kirchenschriftstellers Tertullian: Christus nannte sich die Wahrheit, nicht die Gewohnheit. Kriterium für den Wert von Aussagen und Sachverhalten ist für Ratzinger somit deren Wahrheitsgehalt, nicht deren ehrwürdiges Alter oder deren langer, „traditioneller“ Gebrauch. Die Traditionen vieler Religionen beanspruchten laut Ratzinger, das (vermeintlich oder tatsächlich) „Uralte“ weiterzugeben. Demgegenüber habe bereits das frühe Christentum ein klar anderes Traditionsverständnis vertreten: Das (letztlich auf der Offenbarung gründende) „Ursprüngliche“ weitergeben und dabei immer wieder neu bei diesem Ursprünglichen ansetzen.
 

Einordnung

Ratzingers Sicht der Überlieferung knüpft an Verständnis und Praxis der Tradition des frühen Christentums an. Somit setzt er am selben Punkt an wie die so traditionsfokussierten Ostkirchen. Daher bestehen zwischen dem Traditionsverständnis der frühen Christen, Ratzingers und ostkirchlicher Theologen – trotz zentraler Unterschiede – offensichtliche und ökumenisch relevante Übereinstimmungen. Dennoch ist Ratzingers Traditionsbegriff grundsätzlich dynamischer: Von seinem pneumatisch und geschichtlich geprägten Offenbarungsverständnis her denkt Ratzinger Tradition nicht als stetigen Prozess einer völlig identischen Weitergabe. Sein Traditionsverständnis kennt durchaus das Moment der zunehmenden Entfaltung und Vertiefung im Zusammenspiel von Gottes Einwirkung (vgl. Joh 16,13) und kirchlichem Lebensvollzug. Demgemäß vertritt er eine wirkliche Dogmenentwicklung, d. h. ein von Gottes Geist begleitetes je tieferes Eindringen der Kirche in den offenbarten Glauben. Unbeschadet dieses innovativen Aspektes beschreibt Ratzinger 1967 die Tradition als „nicht produktiv, sondern ,konservativ‘, dienend einem Vorgegebenen zugeordnet“. Stets betonte er, auch schon als junger, als progressiv wahrgenommener Theologe, die Bedeutung des Prinzips Tradition. Indes war er nie und sah er sich nie „Traditionalist“, insofern ein „Ismus“ eine Übersteigerung einer an sich richtigen Sachverhaltes darstellt. Seine theologische Position wird besser als „genuin katholisch“ bzw. „allumfassend“, „ursprünglich“ und „kirchlich“ beschrieben. Er hält die rechte Mitte zwischen den verschiedenen „traditionalistischen“ Positionen und der Traditionsvergessenheit diverser aktualistischer, dynamistischer, progressistischer, modernistischer oder teilweise auch charismatischer Ansätze. Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. hat zur weiteren Klärung des schwierigen Begriffs „Überlieferung“ beigetragen und das Bewusstsein für die theologische, liturgische und geistliche Tradition theologisch sachgemäß und überzeugend begründet und gestärkt. Nicht zuletzt hierin besteht sein bleibender Beitrag zu Kirche, Theologie und Liturgie im 20. und 21. Jahrhundert.