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Interview mit P. Martin Ramm: "Wir sind keine Nostalgiker"

 
Erschienen in der Tagespost am 17.04.2019 | bearbeitet von Regina Einig

Herr Pater Ramm, Sie sind Bischofsvikar für den überlieferten Ritus im Bistum Chur und leiten eine Personalpfarrei. Worin sehen Sie Ihre Hauptaufgabe?

Als Priester und Pfarrer bin ich in erster Linie Seelsorger. Wir feiern die heilige Messe, spenden die Sakramente, halten Katechesen für alle Altersgruppen, besuchen die Kranken, betreuen die Familien und organisieren ein vielfältiges religiöses Angebot für alle Altersgruppen. Zunächst sprechen wir diejenigen an, die in der außerordentlichen Form des Römischen Ritus eine geistliche Heimat gefunden haben, und wenden uns darüber hinaus an alle, die irgendwie auf der Suche sind. Das geht bis hin zur monatlichen Straßenmission in der Zürcher Bahnhofstraße. Ich mache die Erfahrung, dass unsere Gläubigen gut wissen, was ein Priester ist, und uns deshalb auf intensive Weise in Anspruch nehmen, und dass auch Außenstehende recht schnell geneigt sind, Vertrauen zu fassen.

Als Bischofsvikar vertrete ich den Bischof in allen Belangen des Außerordentlichen Ritus in der Diözese Chur. Es gibt hier nämlich eine erfreulich hohe Anzahl an lebendigen Gemeinden, die im überlieferten Ritus beheimatet sind. Persönlich leite ich die Personalpfarrei Heiliger Maximilian Kolbe, die sich auf den ganzen Kanton Zürich erstreckt, und im Augenblick als Pfarradministrator auch noch die zweite Personalpfarrei Maria Immaculata, welche die Urschweizer Kantone Schwyz, Uri, Nidwalden und Obwalden umfasst. Natürlich mache ich nicht alle Arbeit allein. Vielmehr habe ich mehrere eifrige Mitbrüder zur Seite, mit denen ich mir die seelsorgerlichen Aufgaben teile.

Welche Erfahrungen machen Sie im Umgang mit dem Diözesanklerus?

In den 18 Jahren, die ich nun in der Schweiz bin, habe ich mich stets um gute Beziehungen zum Ortsklerus bemüht. Ich kann nicht leugnen, dass es im Einzelfall auch Unverständnis und Ablehnung gab, aber mehrheitlich stoße ich auf Wohlwollen und ehrliches Interesse. Mit zu meinen Aufgaben gehört es, interessierte Mitbrüder in die ,ars celebrandi‘, nämlich die Kunst der Zelebration des außerordentlichen Messritus, einzuführen. Ein guter Teil von Priestern aus der Schweiz und auch aus Deutschland hat das Angebot von Zelebrationskursen und Priesterexerzitien bereits angenommen. Es ist eine beglückende Erfahrung, dass man in diesem Ritus dem eucharistischen Mysterium auf ganz einzigartige Weise nahekommt. Von mutigen Pfarrern wurde ich auch schon zu Pfarreimissionen eingeladen, einmal im Kanton Wallis, einmal im Kanton Schwyz und einmal im Kanton Graubünden.

Der Schweizer Katholizismus gilt als besonders progressiv und aufgrund juristischer Eigenheiten auch stark säkularisiert. Stimmt dieser Eindruck?

Mein Eindruck ist, dass ein gewisser Kontrast viel ausgeprägter ist, als ich es in Deutschland erlebt habe. Wo man sich der katholischen Tradition verbunden weiß, gibt es ausgesprochen große Familien und einen überdurchschnittlich hohen Anteil an religiös praktizierender Jugend. Man erlebt kernige Frömmigkeit, herzliche Gastfreundschaft und vorbildliche Hilfsbereitschaft. Da diese Gruppen bis heute kaum von den offiziellen Kirchensteuergeldern profitieren, ist man jahrzehntelang gewohnt, sogar den Unterhalt der Priester aus Spenden und Kollekten zu bestreiten. Gerade in unserem Bistum Chur gibt es eine stattliche Anzahl von wirklich gläubigen Diözesanpriestern. In dieser Hinsicht kann ich für den „Schweizer Katholizismus“ eine Lanze brechen!
Die andere Seite gibt es natürlich auch, doch das bekommen wir eher indirekt mit. Die sich für aufgeklärt und fortschrittlich haltenden Seelsorgenden überbieten sich teilweise förmlich an immer neuer Kreativität und haben damit schon manchen Gläubigen vertrieben. Letztlich gilt auch für sie das Wort, dass man sie an ihren Früchten messen wird.

Was suchen die Menschen, die in Personalgemeinden kommen, in denen die alte Messe gefeiert wird? Wie finden die Menschen zu Ihnen?

Man sucht den authentischen katholischen Glauben. Man sucht die Ehrfurcht und die Erfahrung des Heiligen. Man sucht Klarheit und Orientierung in Gewissensfragen. Man findet Freude an der zeitlosen Schönheit und spirituellen Erhabenheit des gregorianischen Chorals. Man sucht den Priester als geistlichen Begleiter und Beichtvater. In meiner Pfarrei in Zürich treffen sich Menschen aus allen sozialen Schichten und von unterschiedlichster Herkunft. Gerade in der Großstadt wird es regelrecht handgreiflich, dass die lateinische Kirchensprache eine sehr hohe integrative Kraft besitzt. Wir haben Gläubige, die von klein auf katholisch gelebt haben, aber auch einige, die nach mancherlei Irrwegen nach Hause fanden, indem sie sich bekehrt oder konvertiert haben. Manche sind auf der Suche nach einer ruhigen Bleibe zufällig in einen unserer Gottesdienste hineingestolpert, während uns andere aufgrund persönlicher Empfehlungen fanden. Auch unser Angebot im Internet spielt eine wichtige Rolle.

Wie ist Ihr Verhältnis zur Piusbruderschaft?

Wir wissen uns der Piusbruderschaft in mancherlei Hinsicht verbunden, denn es gibt vieles, was wir gemeinsam lieben, und viele liturgische und seelsorgerliche Anliegen, die wir teilen. Dabei gibt es aber auch das leider nicht unwichtige Detail, dass es für einen Katholiken notwendig ist, in sichtbarer Einheit mit der kirchlichen Hierarchie zu stehen. Die letzten Päpste sind der Priesterbruderschaft Sankt Pius X. sehr weit entgegengegangen, aber noch hat man die dargebotene Hand nicht ergriffen, um sich wieder in die volle Einheit der Kirche zu begeben. Wir beten darum, dass dies geschehen möge, und hoffen, den Beweis liefern zu können, dass es möglich ist, mit dem Segen und der Jurisdiktion der Kirche zu wirken und zugleich der eigenen Identität treu zu bleiben. Indem wir den unverkürzten Glauben leben und verkünden und uns darum bemühen, einen geraden und ganz authentischen Weg zu gehen, soll das auch zum Zeugnis für die getrennten Brüder sein.

Unterscheiden die Messbesucher genau zwischen Ihnen und den Piusbrüdern? Wie funktioniert im seelsorgerlichen Alltag die Abgrenzung?

Es gibt durchaus Gläubige, die bei beiden zur heiligen Messe gehen, doch die meisten entscheiden sich für einen Ort. Wo Tendenzen bestehen, sich in ein Tradi-Ghetto zu verkriechen, hoffen wir Vertrauen zu wecken und Brücken zur konkreten Ortskirche und den Bischöfen als den rechtmäßigen Nachfolgern der Apostel zu bauen. Manch ein Pius-Tradi hat schon staunend festgestellt, dass auch wir katholisch sind. Im Bereich des Schriftenapostolates gibt es teilweise erfreuliche Ansätze von fruchtbarer Zusammenarbeit.

War das Wirken der Piusbrüder für Ihre Gemeinschaft eher positiv (in dem Sinne, dass Traditionen aufrechterhalten wurden) oder abträglich, als Sie in der Schweiz begannen?

Als negativ habe ich das Wirken der Piusbrüder kaum erlebt. Vielmehr muss ich anerkennen, dass sie beispielsweise durch ihre Schulen Erstaunliches leisten. Schon manche unserer Familien haben ihre Kinder auf Schulen der Pius-Bruderschaft geschickt und das durchaus nicht bereut. Wir wünschen von Herzen, dass sie vieles von dem, was sie tun, in der vollen Einheit der Kirche tun. Ich bin überzeugt, dass der Segen von oben dann noch sehr viel größer wäre.

Nach wie vor gibt es unter den Bischöfen im deutschsprachigen Raum eine große Skepsis und auch Unkenntnis gegenüber dem alten Ritus. Wie würden Sie im persönlichen Gespräch versuchen, einen Bischof zu überzeugen, dass er den Petrusbrüdern eine Personalpfarrei anvertraut?

In der Schweiz habe ich seit den Zeiten von Amédée Grab Bischöfe erlebt, die uns nicht vorschreiben wollten, wie sie uns gerne hätten, sondern bereit waren, unsere legitimen Eigenarten zu akzeptieren. Damit scheinen deutsche Bischöfe größere Schwierigkeiten zu haben. Wo man uns die Chance zur konstruktiven Zusammenarbeit gegeben hat, waren die Erfahrungen durchweg positiv. Unsere Erfolge in der Kinder-, Jugend- und Familienseelsorge müsste eigentlich auch ein Blinder sehen. Ich würde manchen Bischof gerne auf eines unserer Familienlager oder eine der großen Wallfahrten einladen, um auf diese Weise gewisse hartnäckige Vorurteile zu knacken. Wir sind gewiss keine Nostalgiker! Ich erinnere mich, wie ein Bischof mir beim Auszug aus einer mit überwiegend jugendlichen Gläubigen gut gefüllten Basilika zuflüsterte: Das müssten meine Mitbrüder sehen!

Wenn Sie neue Wirkungsfelder für Ihre Gemeinschaft in der Schweiz erschließen dürften – welche würden Sie sich wünschen?

Wir wünschen uns in erster Linie Möglichkeiten zu ganz normaler Seelsorge, dass man uns wirklich Kirchengebäude anvertraut, in denen sich katholisches Leben in seiner ganzen Fülle entfalten kann. Mancherorts fehlt es uns leider an einer gewissen Infrastruktur. Wirkungsfelder, die mir persönlich sehr liegen, wären ein noch deutlich ausgebautes Angebot an Exerzitien, Wallfahrten und Jugendseelsorge.

Wen zählen Sie in der Schweiz zu den wichtigsten Förderern des alten Ritus?

Seit dem Jahr 2007 hatten wir das große Glück, in unserem Bischof Vitus Huonder einen Hirten zu haben, der uns ein tiefes Verständnis entgegenbrachte und der sich nach Kräften darum bemüht hat, unsere Apostolate und die in seinem Bistum bestehenden Messzentren zu fördern. Dazu gehört die mutige Maßnahme, seit vielen Jahrzehnten bestehende Apostolate in Form zweier Personalpfarreien zu organisieren und für deren Belange sogar einen Bischofsvikar einzusetzen. Zu Ostern dieses Jahres geht seine Amtszeit leider zuende. Wir danken ihm von Herzen und beten vertrauensvoll um einen guten Nachfolger.