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„Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft …“
 

Von der Bedeutung und Größe des Angelus

P. Dieter Biffart FSSP

Dreimal am Tag läuten feierlich die Glocken von den Kirchtürmen in die Städte, Dörfer und Fluren hinab: am Morgen, zum Mittag, am Abend. Das Glockengeläut hat eine bedeutende Funktion: Es ruft der Christenheit zu, ihren Schöpfer und Erlöser inmitten des Alltags nicht zu vergessen. Bei der Glockenweihe heißt es: „Und wenn ihr Klang an die Ohren der Leute dringt, so möge in diesen die gläubige Frömmigkeit wachsen.“ Eine besondere Frömmigkeitsübung, die mit dem dreimaligen feierlichen Glockengeläut verbunden ist, stellt das Gebet des „Angelus“ dar. Geschichtlich in verschiedenen Etappen gewachsen, geht dieses Gebet auf das Hochmittelalter zurück. Besonders die franziskanische Bewegung bemühte sich um eine eifrige Verehrung der heiligen Menschheit Jesu. Davon zeugt etwa die Krippenfrömmigkeit, die auf den hl. Franziskus von Assisi zurückgeht, aber auch die Einführung des Ave Maria mit den angefügten Worten, welche dem Augenblick der Menschwerdung Gottes andachtsvoll gedenken: „Der Engel des Herrn sprach zu Maria: Ave Maria …“ Bereits 1318 gibt Papst Johannes XXII. die Anweisung, dass beim abendlichen Glockengeläut drei Ave Maria auf Knien zu beten seien. Und als der türkische Sultan Mohammed II. 1456 das christliche Abendland vernichten will, ordnet Papst Callixtus III. an, dass zum Mittagsläuten die Christenheit vereint drei Ave Maria zur Errettung aus der Türkengefahr beten solle. Schließlich führt der hl. Papst Pius V. im Jahr 1571 das Angelus-Gebet in der Form ein, wie wir es heute kennen, wiederum in der höchsten Gefahr für Europa durch die islamische Bedrohung. Den drei Ave Maria werden seither drei einleitende Einschübe vorangestellt, die das Geschehen des Eintritts Gottes in diese Welt im Schoß der allerseligsten Jungfrau Maria verehren, gemäß den Worten des Evangeliums (Lk 1,26-38). Die letzte päpstliche Anordnung, das Gebetsläuten betreffend, geht auf das Jahr 1742 zurück: Damals bestimmte Papst Benedikt XIV., dass in der österlichen Zeit das „Regina coeli“ das Angelus-Gebet ersetzen solle.
Bereits die geschichtliche Entstehung zeigt uns, wie aktuell dieses Gebet für unsere Tage ist. Die fortschreitende Islamisierung Europas, die Relativierung des christlichen Glaubens und ein aggressiver Atheismus rufen einer müde gewordenen Christenheit das Handeln ihrer Vorfahren in Erinnerung, die wachen Auges, im Gebet geeint, Hilfe und Schutz bei der Gottesmutter suchten und fanden. Es soll uns ein Ansporn sein, dieses altehrwürdige, wirkmächtige Gebet treu jeden Tag dreimal, mit der gesamten Christenheit vereint, zu verrichten, denn „allein den Betern kann es noch gelingen, das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten, und diese Welt den richtenden Gewalten durch ein geheiligt Leben abzuringen.“ (Reinhold Schneider). In äußerster Not des Jahres 1456 erinnerte Papst Callixtus in seinem Rundschreiben zur Einführung des Gebetsläutens eindringlich an die Wirkmacht des beharrlichen Gebetes, wenn er als betende Vorbilder Judith und Judas, den Makkabäer, anführte. Judith betete und fastete mit ihrem Volk und konnte so Holofernes und sein Heer besiegen (vgl. Jdt 13), und der Makkabäer Judas betete und konnte deshalb einen vielfach überlegenen Feind niederringen (vgl. 2 Makk 15,27). Die vielfältigen Bedrohungen unserer Tage lassen es notwendig erscheinen, das Angelusgebet wieder neu zu entdecken, zu verbreiten und beharrlich zu beten. Papst Benedikt XVI. sagte anlässlich seines Besuches in Österreich: „Es muss daher ein Anliegen aller sein, nicht zuzulassen, dass eines Tages womöglich nur noch die Steine hierzulande vom Christentum reden würden.“ (Rede in der Wiener Hofburg, 2007) Es gilt daher, die Herausforderung anzunehmen, und der Tradition unserer christlichen Vorfahren folgend, diejenigen Mittel zu gebrauchen, mit denen uns der Sieg des Christentums verheißen ist, damit nicht etwa wegen unserer Saumseligkeit die Glocken unserer Kirchen eines Tages verstummen oder von dem lauten Geschrei falscher Religionen übertönt werden.
Die geschichtliche Wirkmacht und Größe dieses Gebetes erklärt sich vor allem in der Bedeutung des Geheimnisses der Menschwerdung Gottes, die dem Beter des Angelus aufgezeigt wird. Mit den Worten des Erzengels Gabriel an die Jungfrau Maria und ihrer demütigen Einwilligung öffnete sich der verschlossene Himmel, und was durch die Sünde getrennt war, wurde von Gott wiederum zusammengeführt. Es ist die Stunde des alles entscheidenden Beginns unseres ewigen Heiles. „Der Engel harrt auf eine Antwort“, sagt der hl. Bernhard von Clairvaux, „auch wir, o Herrin, harren auf das Wort deiner Erbarmung, wir, die uns der Urteilsspruch der Verdammnis so sehr drückt. Siehe! Der Preis unseres Heils ist dir dargeboten, sogleich werden wir gerettet sein, so du einwilligst. Der Herr selbst, so sehr Er deine Schönheit begehrt, so sehr verlangt Er deine zustimmende Antwort, in welche Er das Heil der Welt gelegt hat.“ (De Laud. V. M., hom. 4)

Die Begegnung des Erzengels Gabriel mit Maria, ihre Antwort und die Fleischwerdung Gottes durch den Hl. Geist, sind ein Weltereignis, das die gesamte Geschichte der Menschheit beeinflusst und umwandeln will. Grund genug, sich täglich, wiederholt, daran zu erinnern und sich dankbar zu zeigen: Zunächst gegenüber Gott, dass Er sich gewürdigt hat, uns das Heil zu schenken, dann auch gegenüber Maria, dass sie dem Ruf Gottes bereitwillig Folge geleistet hat. Der hl. Alfons Maria von Ligouri lehrt, dass eine Ave Maria mehr wert ist als die ganze Welt, ist uns doch im Gruß des Engels an die Jungfrau Maria die ewige, unvergängliche Glückseligkeit verheißen. Deshalb soll der Christ zu diesem Gebet eine große Liebe hegen und es oft beten. Der hl. Ludwig Maria Grignion von Montfort schreibt über die Würde des Ave: "Es ist das neue Hohelied des Gesetzes der Gnade, die Freude der Engel und Menschen, der Schrecken und die Beschämung der Dämonen. Durch das Ave wurde Gott Mensch, eine Jungfrau Gottesmutter, wurden die Seelen der Gerechten aus der Vorhölle befreit, die Verluste des Himmels wiederhergestellt, die leeren Throne besetzt, wurden die Sünden vergeben, die Gnade aufs Neue geschenkt, wurden die Kranken geheilt, die Toten erweckt, die Verbannten zurückgerufen, wurde die allerheiligste Dreifaltigkeit besänftigt und die Menschen erhielten das ewige Leben." (aus: „Der hl. Rosenkranz“).
Wenn im Geheimnis der Menschwerdung also die Kraft der Versöhnung zwischen Himmel und Erde enthalten ist, verwundert es nicht, dass Gott gerade in diesem Geheimnis uns den Sieg über die Feinde des Heils schenken will, wie er es immer wieder im Lauf der Geschichte getan hat. Da es viele sind, die als Feinde des Kreuzes Christi (vgl. Phil 3,18) wandeln, ist es die beständige Aufgabe des Christen, sichere Zuflucht bei Gott zu suchen. Der Herr hat es uns als Testament hinterlassen, dass man „allezeit beten und nicht nachlassen“ müsse. (Lk 18,1) Die Kirche kommt diesem Auftrag nach, indem sie die Gottgeweihten zu jeder Tages- und Nachtzeit dazu anhält, im Stundengebet Gott unablässig zu loben und um Sein Erbarmen zu bitten. Da die in der Welt lebenden Gläubigen durch ihre vielfältigen Aufgaben oft verhindert sind, längere Zeiten während des Tages dem Gebet zu widmen, ist der Angelus aufgrund seiner Kürze eine gute Gelegenheit, inmitten der täglichen Arbeit nicht nachlässig im Gebet zu werden. Der dreimalige Angelus soll ein Atemholen der Seele sein, damit sie, mit der himmlischen Gnade beschenkt, in der Welt stehend nicht das Himmlische vergesse.
Sowohl die Wirkungsgeschichte des Angelus als auch seine innere Kraft, die sich aus dem Geheimnis der Menschwerdung speist, werden es dem Christen leicht machen, das Glockengeläut unserer Kirchen nicht zu überhören, sondern wachsam und beharrlich dem Ruf der Gnade nachzukommen. Dabei wird es ein großer Trost sein, zu wissen, mit vielen Millionen von Betern geeint zu sein, die zur selben Zeit dieselben Worte sprechend Gott für das Geheimnis der Menschwerdung danken, die allerseligste Jungfrau für ihren demütigen Gehorsam loben und in den großen Anliegen der Christenheit bitten.


„Wir kehrten nach langer Wanderung in einer Dorfschenke ein. Mein Freund und ich waren nicht die einzigen Gäste. Wohl 15 Bauern saßen beisammen um den großen Tisch. Es ging heiß her bei ihren Gesprächen. Sie hatten außer einem freundlichen Gruß keine Zeit für zwei fremde Studenten, denn sie legten sich tüchtig ins Zeug bei ihrer Beratung, und die Meinungen wogten hin und her. Und es war uns recht, denn wir hatten einen anstrengenden Weg hinter uns. Da läutete die Glocke vom nahen Kirchturm – und plötzlich war es ganz still in der großen Gästestube. Alle Männer waren aufgestanden, und nun beteten sie gemeinsam den ‚Engel des Herrn’ … Danach wartete alles schweigend, bis der letzte Ton der Glocke verklungen war. Dann aber war es wieder wie vorher, und die lauten Stimmen der Männer füllten wieder den Raum. – Wir waren schon eine Stunde weitergewandert … dann war sie da, die Frage: Warum halten wir es nicht auch so? Warum haben wir den Angelus aus unserem Tageslauf gestrichen?“
(aus: Heinrich Theissing, Der Engel des Herrn, Bautzen, 1954)