Vom Geheimnis der Kindschaft Gottes

Warum Gott ein Kind geworden ist und folglich
auch wir Kinder werden müssen. Eine nicht nur weihnachtliche Betrachtung.
von P. Bernward Deneke FSSP

 

Es ist eine der Urfragen christlichen Nachdenkens: Cur Deus homo? „Warum ist Gott ein Mensch geworden?“ Unter diesem Titel hat denn auch der heilige Kirchenlehrer Anselm von Canterbury (1109) ein berühmtes, in Dialogform gehaltenes Buch verfasst, das in ebenso strengen wie reichen Gedankengängen Antwort zu geben sucht.

In der Weihnachtszeit gesellt sich zu der allgemeineren Frage nach dem Motiv der Menschwerdung die speziellere Frage: Cur Deus infans? „Warum ist Gott ein Kind geworden?“ Und wieder ist ein Theologe mit einem Buch zur Stelle. Dieses kann und will nicht das Schwergewicht des anselmischen Meisterwerkes für sich beanspruchen, es verdient aber sehr wohl unsere fromme Aufmerksamkeit. Verfasser ist der im Jahr 2002 verstorbene Salzburger Dogmatikprofessor und Apostolische Protonotar Ferdinand Holböck, dem es in vielen Schriften gelungen ist, die Theologie in enge Beziehung zu gelebter Heiligkeit zu bringen. So nehmen auch in dem 140-Seiten-Opusculum die konkreten Gestalten aus Fleisch und Blut, an denen die rechte und innige Verehrung des Jesuskindes abzulesen ist, den weitaus größten Raum ein: Maria und Joseph führen die Prozession an, gefolgt von Bethlehems Hirten und den Weisen aus dem Morgenland, von Simeon und Anna, Hieronymus, Bernhard von Clairvaux, Franziskus und Clara von Assisi, Antonius von Padua und einer stattlichen Schar weiterer Heiliger, Seliger und Gottesdiener, an deren Ende der Autor, gewiss nicht ohne Augenzwinkern, auch Ochs und Esel, die Christkindverehrer aus dem Tierreich, aufmarschieren lässt.

Die titelgebende Frage seines Buches „Warum ist Gott ein Kind geworden?“ behandelt Holböck in Kürze. Zehn knappe Thesen wollen uns verständlich machen, weshalb Jesus Christus, unser Herr und Gott, nicht in einer gewaltigen Manifestation von Macht und Herrlichkeit auf Erden erschienen ist oder wenigstens als ein erwachsener Mann, der unverzüglich das Werk als Lehrer göttlicher Wahrheit, als königlicher Völkerhirte und hohepriesterlicher Erlöser hätte in Angriff nehmen können; warum Er stattdessen erst neun Monate im jungfräulichen Schoß Seiner Mutter Maria zubrachte und dann die Entwicklungsphasen des Säuglings, des Kindes und der Jugend durchschritt – eine doch recht lange und für Seine eigentliche Sendung scheinbar überflüssige Zeit. Angeregt durch Ferdinand Holböcks Darlegungen, wollen auch wir uns einige Gedanken darüber machen.
Die Frage nach dem Grund der Kindwerdung Gottes ist unter dogmatischem Gesichtspunkt so zu beantworten: Er wollte wahrhaft einer von uns werden, in allem uns gleich außer der Sünde (Hebr 4,15); und da ausnahmslos jeder Mensch einmal Kind war (oder es noch ist), wollte Jesus auch diese bedeutsame Lebensetappe mit uns teilen, also wie wir von einer Frau geboren werden (vgl. Gal 4,4) und heranwachsen, zunehmend an Weisheit, Alter und Gnade vor Gott und den Menschen (Lk 2,52). Durch die Kindwerdung des ewigen Sohnes wurde also Seine wahre Menschheit und Menschlichkeit in aller Deutlichkeit herausgestellt.

Fragt man über die lehrmäßige Perspektive hinaus auch nach dem geistlichen Sinn des Kommens Jesu als Kind, dann treten andere Aspekte hervor, die zu beachten und zu betrachten sich lohnt, da sie unser christliches Leben, unseren Wandel vor Gott und den Menschen, betreffen.

Ein erster Anlauf: Wir wissen, wie sehr der Anblick eines kleinen Kindes in uns für gewöhnlich Regungen der Liebe hervorruft. Mögen Wissenschaftler darin nur eine List der Natur sehen, nötig für das Überleben der Spezies Mensch, so erkennen wir doch die tiefere Bedeutung solcher Gefühle: Im Kleinkind (das freilich auch schon durch den Sündenfall in Mitleidenschaft gezogen ist) begegnen wir, ob bewusst oder unbewusst, dem Bild des reinen, unverdorbenen Anfangs unseres Lebens. Und dieses Bild bewegt und entzückt unser Herz.
Magnus Dominus et laudabilis nimis, sed parvus Dominus et amabilis nimis, heißt es daher beim heiligen Bernhard von Clairvaux: „Groß ist der Herr und überaus lobenswert, aber klein ist der Herr und überaus liebenswert – als der Kleine nämlich, der uns geboren wurde“ (47. Predigt über das Hohelied); und in der weihnachtlichen Messpräfation: „Durch das Geheimnis des fleischgewordenen Wortes strahlt vor den Augen unseres Geistes das neue Licht Deiner Klarheit auf, damit wir, während wir Gott sichtbarerweise erkennen, dadurch zur Liebe des Unsichtbaren hingerissen werden“. Ja, das Anschauen des Kindes in der Krippe macht es möglich, Gott mit den menschlichsten Gefühlen und ohne Furcht zu lieben. Von dort aber gelangen wir zur übernatürlichen Liebe des unseren Blicken verborgenen Gottes.

Zweite Überlegung: Jede Lage, in die sich unser Herr auf Erden begeben hat, besitzt eine unvergängliche Heilsbedeutung. Sie offenbart uns jeweils auf ihre Weise Sein Wesen, Seine Eigenschaften und Ratschlüsse und zeigt uns zugleich, wozu wir berufen sind, wie wir folglich leben sollen. Das gilt auch von dem Zustand Seiner Kindheit.
Wie hat Christus sich in diesem gezeigt? Vor allem als „sanft und demütig von Herzen“ (Mt 11,29). Seine Demut erweist sich darin, dass Er an Seinem Gott-gleich-Sein nicht wie an einem Raub festhielt, sondern sich erniedrigte und die Gestalt eines Knechtes annahm (Phil 2,6 f.) – zuvor aber die eines Kindes.
Das Kind stand im Altertum insgesamt nicht in allzu hohem Ansehen. In der Bibel und bei den Kirchenvätern finden sich viele Stellen, die, weit entfernt davon, das Niedliche und Liebliche des Kindes zu betonen, von ihm als einem noch unfertigen Menschen sprechen, der unmündig und sprachlos (daher das lateinische Wort für Kind: infans = „nicht redend“), ja töricht ist. Im Prozess der Reifung soll deshalb das Kindhafte abgetan werden: „Da ich ein Kind war, sprach ich wie ein Kind, fühlte wie ein Kind, dachte wie ein Kind. Doch als ich zum Mann geworden war, legte ich das Kindhafte ab“ (1 Kor 13,11).
Seitdem nun aber Gott selbst ein solches Menschlein war, hat der erste Abschnitt unseres Lebens eine ganz neue, geheimnisvolle Würde empfangen, die der Dichter Clemens Brentano (+ 1842) besingt: „Welch Geheimnis ist ein Kind! Gott ist auch ein Kind gewesen. Weil wir Gottes Kinder sind, kam ein Kind, uns zu erlösen. (…) Welche Würde hat ein Kind! Sprach das Wort doch selbst die Worte: Die nicht wie die Kinder sind, gehen nicht ein zur Himmelspforte. Welche Würde hat ein Kind!“
So unangemessen für einen erwachsenen Menschen Kindereien, kindische Verhaltensweisen sind, so erstrebenswert muss dem Christen echte Kindlichkeit sein, ist sie doch seit der Kindwerdung unseres Gottes nun wahrhaft ein Weg der imitatio Christi, der Nachahmung (nicht nur Nachfolge!) Christi, geworden. Solche Kindlichkeit hat freilich nichts mit dem Lebensalter, dafür aber alles mit bestimmten inneren Haltungen zu tun. Das wusste der französische Priester und Schriftsteller Michel Quoist (+ 1997) in einer Paraphrase des Wortes „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich eintreten“ (Mt 18,3) in berührender Weise herauszustellen. Er lässt den Herrn sprechen: „In meinem Reich will ich nur Kinder, das ist beschlossen seit ewig: verschrumpfte Kinder, bucklige Kinder, verrunzelte Kinder, weißbärtige Kinder, alle Arten von Kindern, die ihr wollt; aber Kinder, nichts als Kinder.“
Wer immer sich daher um kindliche Haltungen bemüht, nämlich um Demut und Reinheit, um Einfalt und Einfachheit, um Vertrauensseligkeit und Offenherzigkeit, um Lernbereitschaft sowie um die Fähigkeit zum Staunen und zu echter Begeisterung, der lebt selbst dann, wenn er hochbetagt ist, in geistlicher Kindschaft, weil er „das Himmelreich aufnimmt wie ein Kind“ (Lk 18,17). Und indem er so mit Jesus zum Kind wird, kann er dann auch mit Ihm zum Vollalter Christi (vgl. Eph 4,13) gelangen.

Und noch ein letzter Gedanke dazu, warum Gott ein Kind geworden ist. In den frühen und frühesten Stadien des Lebens, besonders als Embryo und als Säugling, befindet sich der Mensch in einem Zustand völliger Abhängigkeit, in dem er selbst nichts tun und ohne die Sorge anderer nicht überleben kann. In diese Lage hat sich auch der Erlöser begeben, um uns dadurch unser Verhältnis gegenüber Gott dem Vater und Ihm selbst zu zeigen: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“ (Joh 15,1) Aber damit nicht genug: Der selige Leib, der Ihn damals getragen, und die Brust, die Ihn genährt hat (Lk 11,27), sind Leib und Brust der jungfräulichen Gottesmutter. Von ihr also war Er gänzlich abhängig. Dürfen wir daraus nicht lesen, dass Er uns als kleines Menschenkind auch das kindliche Vertrauen zu und die Hingabe an Maria lehren wollte, zu ihr, die Er selbst uns zur Mutter gegeben hat: „Siehe da, deine Mutter“ (Joh 19,27)? Die heiligen Verehrer des kindgewordenen Gottes sind Ihm darin mit Freude gefolgt.

So lassen sich viele Gründe für die Kindwerdung Gottes anführen. Das Entscheidende aber besteht darin, dass wir durch sie zur Verehrung, zur Liebe und zur Nachahmung des Weihnachtsgeheimnisses bewegt werden.