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„Ach, für Seiner Brüder Schulden
sah sie Jesus Marter dulden“

Am Fest der Sieben Schmerzen Mariens stellt uns die Sequenz ,Stabat Mater dolorosa‘
die Leiden der Gottesmutter lebendig vor Augen

von P. Lic. Daniel Eichhorn FSSP

Das Römische Messbuch von 1962 kennt fünf Sequenzen. Vor der behutsamen liturgischen Reform im Jahre 1570, im Anschluss an das Konzil von Trient (1545-1563), gab es noch einige andere Sequenzen, die nicht mehr übernommen wurden. Drei dieser poetischen Werke haben wir bereits als Grundlage geistlicher Betrachtungen verwendet. Im Spätsommer, am 15. September, feiert die Kirche das Fest der Sieben Schmerzen Mariens. Es wurde erst 1727 eingeführt und hat eine eigene Sequenz: das „Stabat Mater“, die bekannte Sequenz zur schmerzhaften Mutter. Ihr Thema ist das Leiden der Gottesmutter Maria im Angesicht der Passion ihres Sohnes. Wie die Sequenz „Dies iræ“ stammt auch dieser Text aus dem Hohen Mittelalter. Wurde früher der franziskanische Laienbruder Jacopone da Todi (ca. 1228/30 - 25.12.1306) als Autor vermutet, so ist man von dieser These abgekommen. Ursprünglich wurde dieses Reimgebet nicht als Sequenz verfasst. Sicherlich ist es diejenige Sequenz, die vielen Mitbrüdern der Priesterbruderschaft im Laufe der Jahre am häufigsten begegnet ist. Das hängt mit der Ausbildung im Priesterseminar St. Petrus zusammen. Denn dort wird freitags abends in der Regel in feierlicher Form der Kreuzweg gebetet; zwischen den einzelnen Kreuzwegstationen wird dabei jeweils eine Strophe des Stabat Mater gesungen. Kein Wunder, dass dies im Laufe der Ausbildungsjahre eine tiefe Vertrautheit mit diesem liturgischen Text schafft.

Biblische Grundlage
Das Fest Sieben Schmerzen Mariens wird einen Tag nach dem Fest Kreuzerhöhung gefeiert. Jesu Kreuz ist der Ort der größten Leiden der Gottesmutter, ja, es ist der Ort, an dem sich die Prophezeiung des greisen Simeon erfüllte, die er etwa drei Jahrzehnte zuvor im Tempel ausgesprochen hatte: „Siehe, dieser ist bestimmt zum Fall und zur Auferstehung vieler in Israel und zum Zeichen des Widerspruchs. – Auch deine Seele wird ein Schwert durchdringen. – So sollen die Gedanken vieler Herzen offenbar werden.“ (Lk 2,34 f.) Was am Anfang des Lebens Jesu – bei seiner Beschneidung und Namensgebung am achten Tage – geweissagt worden war, wird am Ende seines irdischen Lebens Wirklichkeit: der Mark und Bein durchbohrende Schmerz des Mitleids im Herzen seiner allreinen Mutter. Die zentralen Gedanken des Festes und seiner Sequenz sind somit bereits in der Heiligen Schrift grundgelegt. Gleich die zweite Strophe der Sequenz greift Simeons Prophetie auf: „Durch die Seele voller Trauer / Seufzend unter Todesschauer / Jetzt das Schwert des Leidens ging.“ Der biblische Gedanke vom schmerzdurchbohrten Herzen Mariens wird dann noch weiter ausgeführt: (3.) „Welch ein Weh der Auserkornen / Da sie sah den Eingebornen / Wie Er mit dem Tode rang!“ (4.) „Angst und Trauer, Qual und Bangen / Alles Leid hielt sie umfangen / Das nur je ein Herz durchdrang.“ Das Mitleid des Beters Doch der Autor der Sequenz bleibt nicht bei der Beschreibung des seelischen Zustands Mariens stehen. Vielmehr lässt er sich selbst von Mitleid ergreifen: Das Mitleid der Gottesmutter mit ihrem Sohn erweckt unser Mitleid nicht nur mit dem Herrn am Kreuz, sondern auch mit seiner Mutter. Und der Beter der Sequenz will, dass auch alle anderen Menschen die Leiden Mariens wahrnehmen und ebenfalls von Mitleid mit ihr ergriffen werden: (5.) „Wer könnt‘ ohne Tränen sehen / Christi Mutter also stehen / In so tiefen Jammers Not?“ (6.) „Wer nicht mit der Mutter weinen / Seinen Schmerz mit ihrem einen / Leidend bei des Sohnes Tod?“ Jesus war unschuldig wie ein makelloses Osterlamm. Der Grund seiner Passion Christi lag daher nicht in seiner eigenen Schuld, sondern in der stellvertretenden Sühne für die Sünden und Vergehen der Menschheit, wie die siebente Strophe zeigt: „Ach, für Seiner Brüder Schulden / Sah sie Jesus Marter dulden / Geißeln, Dornen, Spott und Hohn.“ Der Text fährt fort im Hinblick auf Maria: (8.) „Sah Ihn trostlos und verlassen / An dem blut‘gen Kreuz erblassen / Ihren lieben einz‘gen Sohn.“

Anrede an die Schmerzensmutter
Angesichts all dieser Leiden der Mutter Jesu drängt es den Autor der Sequenz, sich direkt an sie zu wenden. Zwar ist er, wie wir sahen, bereits von größtem Mitgefühl erfüllt. Dennoch ist es ihm ein Bedürfnis, in diesem Mitleiden zu verharren, so dass er die schmerzreiche Mutter um die Gabe des Mitleids und der Reue bittet. Die Schmerzen Jesu und die Leiden des unbefleckten Herzens Mariens mögen eingeprägt werden in unsere Seelen, damit dadurch unser Inneres gewandelt werde: (9.) „Gib, o Mutter, Born der Liebe / Dass ich mich mit dir betrübe / Dass ich fühl‘ die Schmerzen dein.“ (10.) „Dass mein Herz von Lieb‘ entbrenne / Dass ich nur noch Jesus kenne / Dass ich liebe Gott allein.“ (11.) „Heil‘ge Mutter drück‘ die Wunden / Die dein Sohn am Kreuz empfunden / Tief in meine Seele ein.“ (12.) „Ach, das Blut, das Er vergossen / Ist für mich dahingeflossen / Lass mich teilen Seine Pein.“

Die Gabe der Tränen
Schmerz oder seelische Erschütterung können in einem Menschen so groß werden, dass sie die Seele und die Augen gleichsam überfluten und Tränen hervorrufen. Es ist aber eine alte menschliche Erfahrung: Wo das Auge Tränen vergießt, da ereignet sich eine Wandlung: Die Seele wird freier, der Schmerz findet ein Ventil, kann gleichsam ,abfließen‘. Das überlieferte Römische Messbuch weiß um diese Dinge. Denn es enthält die Votiv-Orationen um die „Gabe der Tränen“, die freilich wenig bekannt sind. Das Tagesgebet lautet: „Allmächtiger und mildreicher Gott, Du ließest dem dürstenden Volk eine Quelle lebendigen Wassers aus dem Felsen strömen; so entlocke auch unseren harten Herzen Tränen der Reue, damit wir unsere Sünden beweinen und durch Dein Erbarmen deren Verzeihung erlangen.“ Ganz ähnlich bittet auch die Sequenz Stabat Mater um die Tränengabe: (13.) „Lass mit dir mich herzlich weinen / Ganz mit Jesu Leid vereinen / Solang hier mein Leben währt.“ Die folgenden Strophen variieren dann erneut die Gedanken der Sequenz: (14.) „Unterm Kreuz mit dir zu stehen / Dort zu teilen Deine Wehen / Ist es, was mein Herz begehrt.“ (15.) „O du Jungfrau der Jungfrauen / Woll’st in Gnaden mich anschauen / Lass mich teilen deinen Schmerz.“ (16.) „Lass mich Christi Tod und Leiden / Marter, Angst und bitt’res Scheiden / Fühlen wie dein Mutterherz.“ (17.) „Mach, am Kreuze hingesunken / Mich von Christi Blute trunken / Und von Seinen Wunden wund.“ (18.) „Dass nicht zu der ew’gen Flamme / Der Gerichtstag mich verdamme / Sprech‘ für mich dein reiner Mund.“

Hinwendung zum Sohn am Kreuz
Die Schmerzen Mariens haben ihren Grund ganz konkret im heilbringenden Leiden ihres Sohnes. Er ist der Urheber unseres Heils, der ewige Sohn Gottes, der seinen menschlichen Leib aus der Jungfrau Maria erhielt. Er wirkte das Heil der Welt durch seine schmerzvolle Liebeshingabe am Kreuz an den Willen des Vaters. Deshalb wendet sich die Sequenz schließlich in den letzten beiden Strophen zu Recht an ihn: (19.) „Christus, um der Mutter Leiden / Gib mir einst des Sieges Freuden / Nach des Erdenlebens Streit.“ (20.) „Jesus, wann mein Leib wird sterben / Lass dann meine Seele erben / Deines Himmels Seligkeit! Amen.“ Das Fest ,Sieben Schmerzen‘ und seine Sequenz erweist sich somit – rund ein halbes Jahr nach der Passionszeit – als Erinnerung an diese. Es ist mitten im Spätsommer eine Einladung, das Leiden Christi und Mariens nicht zu vergessen. Wir betrachten es bei der Lektüre der Passionsberichte der Evangelien sowie beim Gebet des Kreuzwegs, des Schmerzhaften Rosenkranzes und des Rosenkranzes zur göttlichen Barmherzigkeit. Die Betrachtung der Leiden Christi und seiner Mutter ist keineswegs eine Gebetsübung, die erst im Mittelalter entstanden wäre. Zwar spielte sie in Geisteswelt und Frömmigkeit des Mittelalters eine besondere Rolle. Doch schon in der christlichen Antike, im vierten Jahrhundert, empfahl der heilige Augustinus die Betrachtung des Leidens Christi als eines der stärksten Mittel zur Überwindung von Versuchungen und zur Stärkung im Glauben. Sie erweckt in uns die Sehnsucht nach einem je besseren Leben und drängt so zur täglichen Gewissenserforschung.