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Zwischen Wissenschaftsgläubigkeit- und feindlichkeit

Wie die Gender-Ideologen ihre Realitätsverweigerung
als Wissenschaftskritik verkaufen und warum das nicht hinhaut.

von P. Engelbert Recktenwald FSSP

Prof. Dr. Martin Lücke hat im März in einem ZEIT-Interview die Katze aus dem Sack gelassen: Die Gendertheorie, die das Geschlecht nicht als etwas natürlich Vorgegebenes, sondern als etwas sozial Konstruiertes und Aufgezwungenes betrachte, sei „wirklich eine Glaubensfrage.“ Diese These sei „die Prämisse der Genderwissenschaft.“ Dem Einwand, dass dies biologischen Erkenntnissen widerspricht, begegnet Lücke mit einer grundsätzlichen Wissenschaftskritik: Er stellt die Biologie ihrerseits als interessegeleitetes soziales Konstrukt hin, um ihr die Deutungshoheit über das, was Sexualität sei, zu bestreiten. Ihre vorwissenschaftliche Arbeitshypothese bestehe in dem Willen, immer etwas eindeutig zu bestimmen.

Nun ist ein gesundes Maß an kritischer Distanz gegenüber dem, was als Wissenschaft ausgegeben wird, sicherlich angebracht. Der Wissenschaftler ist nicht automatisch vor Ideologieanfälligkeit gefeit. Man denke nur an den Materialismus des 19. Jahrhunderts, zu dem sich viele Forscher im Gefolge des naturwissenschaftlichen Aufschwungs verführen ließen. Da gab es etwa den Zoologen Carl Vogt, Anhänger des Darwinismus, der die Gedanken zum Gehirn im gleichen Verhältnis sah wie den Urin zu den Nieren. Geisteswissenschaften wie die Philosophie verachtete er. Ähnliche Töne hört man heute, wenn die Geisteswissenschaften in abwertender Absicht als bloße Verbalwissenschaften den Realwissenschaften gegenübergestellt werden – so beim Evolutionsbiologen Ulrich Kutschera. Einer materialistisch konzipierten Evolutionstheorie möchte man den Status einer unhinterfragbaren Tatsache verleihen, so dass wissenschaftliche Einwände, wie sie die Molekularbiologen Michael Behe und Bruno Vollmert vorgetragen haben, als Pseudowissenschaft diffamiert werden können. Dass Carl Vogt darüberhinaus auch noch einen groben Rassismus, der etwa den „Idioten“ zwischen „Schimpanse“ und „Neger“ platziert, biologisch zu begründen suchte, macht den Missbrauch der Wissenschaft überdeutlich. Umgekehrt versuchte auch Karl Marx die Biologie zu vereinnahmen, indem er Darwins Schrift „Über den Ursprung der Arten“ als die „naturwissenschaftliche Grundlage des gesellschaftlichen Klassenkampfes“ ansah – so in einem Brief an Lassalle.

Doch egal, ob die Wissenschaft für den Rassismus, Sozialismus oder – wie heutzutage von Dawkins und seinen Gesinnungsgenossen – für den Atheismus missbraucht wird: Die Antwort kann nicht in ihrer Ablehnung bestehen, sondern in der Unterscheidung dessen, was wirklich Wissenschaft ist und was ideologische Vereinnahmung. Und genau diese Unterscheidung macht Lücke nicht. Bei ihm fällt der Unterschied zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft weg, indem er die Wahrheitsfrage eliminiert. Es geht ihm nicht mehr um die Frage, wie es sich wirklich verhält, sondern um die Durchsetzung von Interessen.
Für die Gendertheorie gibt er das offen zu: Es gehe um die Hoffnung, „sich von einer genormten Sexualität zu befreien, neue Spielräume zu finden, jenseits der Muster und vorgegebenen Identitäten.“ Nachdem er die Wissenschaft unter den Generalverdacht interessegeleiteter Manipulation gestellt hat, kann er sich selber einen Persilschein ausstellen nach dem Motto: Wenn alle tun und denken, was sie wollen, dann darf ich das auch.

Dabei ist die angeblich vorwissenschaftliche Arbeitshypothese, etwas eindeutig bestimmen zu wollen, gerade keine inhaltliche Vorgabe, sondern Voraussetzung, um überhaupt etwas zu erkennen. Der Mediziner möchte die Krankheit eindeutig bestimmen, um das richtige Heilmittel zu finden; der Astronom möchte die Entfernungen und Kräfte eindeutig bestimmen, um die Marssonde sicher zum Ziel zu steuern; der Anatom möchte die Organe und ihre Funktion eindeutig bestimmen, um den menschlichen Körper zu verstehen. All dies hat nichts mit Ideologie zu tun, sondern mit dem Willen, herauszufinden, wie es sich wirklich verhält. Nur beim Geschlecht soll es anders sein, weil es einen Bevölkerungsanteil im Promillebereich gibt, der sich in seiner Haut als Mann oder Frau unwohl fühlt und deshalb das Geschlecht leugnet. Dafür werden dann zahllose Zentren mit dem irreführenden Namen „Gender Studies“ errichtet – irreführend deshalb, weil es nicht darum geht, die Wirklichkeit zu studieren, sondern eigene Vorstellungen durchzusetzen. Wie erkenntnisresistent die Genderideologen sind, konnte im Jahr 2010 der Norweger Harald Eia erleben, der Genderwissenschaftler vor laufender Kamera mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen konfrontierte. Die Reaktionen zeugten von solch verbissener Realitätsverweigerung, dass die Öffentlichkeit schockiert, die Genderzunft endgültig blamiert war und das Genderinstitut in Oslo geschlossen wurde. In Deutschland, wo eher der gesunde Menschenverstand vor der Ideologie kapituliert als umgekehrt, ist man noch lange nicht so weit. Doch die „Demonstrationen für alle“, wie sie beispielsweise am 5. April in Stuttgart stattgefunden haben, sind ein Silberstreif am Horizont, der die größte Unterstützung verdient. Sie dienen nicht nur der Verteidigung der Familie gegen deren Auflösung, sondern auch der Verteidigung der Wissenschaft und des gesunden Menschenverstandes gegen den Gender-Obskurantismus.