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Der Wandel in der Gegenwart Gottes

P. Walthard Zimmer FSSP

Waren Sie schon einmal unandächtig im Gebet? Jeder von uns kennt das: Wir möchten beten, doch die Gedanken schweifen ab, wir träumen und wenn die Zeit, die wir dem Gebet widmen wollten, vorbei ist, müssen wir uns eingestehen: „Ich habe an alles gedacht, nur nicht an Gott“. Aber – es gibt ein Mittel dagegen und dieses Mittel heißt: Der Wandel in der Gegenwart Gottes.

Die Jugend von heute ist keineswegs areligiös oder oberflächlich. Sie sucht Gott und spirituelle Tiefe. Nicht selten wenden sich Jugendliche fernöstlichen Gebetstechniken zu, um dort zu finden, was sie suchen. Doch das Christentum hat Besseres anzubieten. Es ist an der Zeit, die Schätze der eigenen, katholischen Tradition wieder lebendig zu machen. Unzählige Heilige haben ihre Erfahrungen mit Gott aufgeschrieben und lehren uns unter verschiedenen Namen doch immer das Gleiche. Ob sie es nun „Innerlichkeit“ nennen, oder „immerwährendes Herzensgebet“, „Jesusgebet“ oder „In allem Gott sehen“, sie lehren damit die Gebetstechnik des Christentums: Den Wandel in der Gegenwart Gottes.
Der heilige Paulus verrät uns den Willen Gottes: „Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, bei allem sagt Dank. Denn das ist Gottes Wille in Christus Jesus an euch“ (1 Thess 5,17). Bete ohne Unterlass! Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, wie das gehen soll? Die Kommunikationsgesellschaft, in der wir leben, bombardiert uns ständig mit Informationen in Zeitungen, Radio und Fernsehen, Telefon (Handy!),  Fax und Internet. Wie sollen wir mitten im Bürostress oder während der Hausarbeit, in der Schule oder bei unserer Freizeitbeschäftigung ohne Unterlass beten? Es gibt einen Weg: Den Wandel in der Gegenwart Gottes.
Es ist kein Geheimnis, dass derzeit auch viele Priester und Ordensleute in ihrem Denken und Handeln verweltlicht sind. Unter dem Vorwand einer Anpassung an veränderte Zeitverhältnisse sind viele, die in dieser Welt für Gott leben sollten, von dieser Gottbezogenheit in eine Mittelmäßigkeit, wenn nicht tiefer, abgesunken. In erster Linie verursacht diese mangelnde Gottverbundenheit die Krise in der Kirche. Das Gebot der Stunde ist: Zurück zu den Quellen des geistlichen Lebens, zurück zum Wandel in der Gegenwart Gottes.

Man darf behaupten: Wenn jemand die Gebetstechnik des Wandels in der Gegenwart Gottes lernt und beharrlich übt, dann hat er viel, vielleicht alles im geistlichen Leben erreicht, was durch die eigene Anstrengung unserer schwachen Natur erreicht werden kann. Es liegt allein bei Gott, ob er eine Seele zu mystischer Vereinigung erheben will. Doch der Grundsatz: „Die Gnade setzt die Natur voraus“, gilt wie eh und je. In dem Maße, in dem wir ablassen von unserem eigenen „Ich“ wird Gott in uns Gestalt annehmen. Wir haben uns anzustrengen, alles Unreine und Unvollkommene aus uns zu verbannen und uns auszurichten nach Gott. Diese Anstrengungen gleichen oft dem unbeholfenen Um-sich-Schlagen eines Nichtschwimmers, der sich gerade noch über Wasser halten kann. Durch den Wandel in der Gegenwart Gottes gleicht unser Vollkommenheitsstreben jedoch jenen kraftvollen Schwimmzügen, die uns planmäßig und effizient durch die Wellen bringen. Gott unterstützt unsere Bemühungen gewiss. Wer noch kein Heiliger ist, ist selbst schuld daran!
Viele Katholiken in Zentraleuropa sind innerlich morsch geworden, dem kirchlichen Leben entfremdet und auf dem Weg in ein Neuheidentum. Letztlich können hier nur Beter, nur gottverbundene Seelen gegensteuern, die durch immerwährendes Gebet und durch immerwährende Opfer in demütiger Vereinigung mit den Gebeten und Opferleiden Jesu Christi das Erbarmen Gottes auf uns arme Sünder herabrufen.
 

Gottes Gegenwart in und um uns

Wer den “Wandel in der Gegenwart Gottes” lernen will, bemüht sich, eine möglichst klare und reine Auffassung von der Art und Weise der Gegenwart Gottes zu bekommen.
Der „Katechismus der katholischen Kirche” schreibt bei der Erklärung der Worte „Vater unser im Himmel”: »Im Himmel« bezeichnet keinen Ort, sondern die Erhabenheit Gottes und seine Gegenwart im Herzen der Gerechten. Der Himmel, das Haus des Vaters, ist die wahre Heimat, nach der wir streben und der wir jetzt schon angehören.” (KKK2802)
Der “Römische Katechismus”, der nach dem Konzil von Trient herausgegeben wurde und etwa die selbe Aufgabe hatte wie heute der “Katechismus der katholischen Kirche“, schreibt im selben Zusammenhang: „Unter allen, die von Gott richtig denken, ist bekannt, dass Gott überall, an allen Orten ist. Dies ist aber nicht so aufzufassen, als ob Gott in Teile geschieden, mit dem einen Teil den einen Ort und mit einem anderen Teil einen anderen Ort einnehme. Denn Gott ist ein Geist, ohne jegliche Teilung. Wer auch würde es wagen, Gott, gleichsam auf einen bestimmten Platz gestellt, mit den Grenzen irgendeines Ortes zu umschreiben, da er doch selbst von sich sagt: ,Erfülle ich nicht den Himmel und die Erde?’ Dieses ist aber wiederum so zu verstehen, dass Gott den Himmel und die Erde und alles, was im Himmel und auf Erden enthalten ist, mit seiner Kraft und Gewalt umfasst, aber nicht, dass er selbst von irgendeinem Orte eingeschlossen ist. Denn Gott ist in allen Dingen gegenwärtig, entweder sie erschaffend oder die erschaffenen Dinge erhaltend, durch keine Länder, durch keine Grenzen umschrieben oder so eingeschränkt, dass er nicht überall sowohl mit seiner Natur als auch seiner Gewalt gegenwärtig wäre.“ Mit Recht sagt hier der Römische Katechismus, dass die Allgegenwart Gottes allen, die von Gott richtig denken, bekannt ist. Denn selbst Heiden, die zu einer reineren Vorstellung von Gott sich durchgerungen hatten, erkannten Gottes Allgegenwart. So wird vom Heiden Plotinus der Ausspruch überliefert: „Bei allen Menschen, die von Gott eine Vorstellung haben, ist bekannt, dass nicht bloß der höchste Gott, sondern auch alle Götter überall gegenwärtig sind und dass die Vernunft selbst schließt, dass es so ist. Es ist das in jede menschliche Natur hineingelegt, dass der Mensch, sobald er glaubt, dass es einen Gott gebe, auch annimmt, dass Gott überall sei.“  Wenn aber schon Heiden die Allgegenwart Gottes erkannten, um wieviel mehr müssen wir Christen von der Allgegenwart Gottes fest überzeugt sein, wir Christen, denen die Allgegenwart Gottes durch Gottes Wort selbst unzweifelhaft bezeugt ist!
Die Heilige Schrift enthält eine Reihe von Stellen, an denen sie die Allgegenwart Gottes lehrt. Der Prophet Jeremias gibt Zeugnis von der Allgegenwart Gottes, indem er dessen Ausspruch überliefert: „Bin ich ein Gott nur aus der Nähe – spricht der Herr – und nicht ein Gott aus der Ferne? Kann jemand sich so heimlich verstecken, dass ich ihn nicht sehe? Fülle ich nicht den Himmel und die Erde aus?, spricht der Herr“ (Jer 23, 23-24). Besonders anschaulich und schön beschreibt der Psalmist die Allgegenwart Gottes, indem er ausruft: „Wohin soll ich flüchten vor deinem Geiste? Wohin vor deinem Antlitz entflieh´n? Stieg ich zum Himmel empor, so bist du zugegen; wollte ich in der Unterwelt lagern, so bist du auch dort. Nähm’ ich des Morgenrots Schwingen und ließe mich nieder am fernsten Gestade: Auch dort noch wird deine Hand mich geleiten und halten mich deine Rechte. Und sagte ich auch: Finsternis soll mich bedecken und Nacht mich umgeben wie sonst das Licht: So ist doch Finsternis selbst nicht dunkel für dich, Nacht ist dir hell wie der Tag“ (Ps. 138, 7-12). Wo immer wir also sind, auch in den Tiefen und an den Grenzen der Erde, ist Gott bei uns und hält uns in seiner Hand. Auch im Dunkel der Nacht können wir uns nicht vor ihm verbergen.
Im Buch der Weisheit lesen wir: „Wohl ist die Weisheit ein menschenfreundlicher Geist. Sie kann aber den Lästerer ob seiner Lippen nicht ungestraft lassen. Ist Gott doch Zeuge seiner Nieren, wirklicher Beobachter seines Herzens und Hörer seiner Worte. Der Geist des Herrn erfüllt ja den Erdkreis, und der das All umfaßt, weiß alles, was geredet wird. Darum bleibt keiner verborgen, der Unrechtes redet, und die strafende Gerechtigkeit geht an ihm nicht vorüber“ (Weish. 1, 6-8).
Auch in den Schriften des Neuen Bundes finden wir zwei gewichtige Zeugnisse für die Allgegenwart Gottes. Es sind zunächst die Worte, die der hl. Paulus in seiner groß angelegten Predigt auf dem Areopag zu Athen gesprochen hat: „Gott ist nicht fern von einem jeden aus uns. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg. 17, 27. 28). Eine andere überaus klare Stelle über die Allgegenwart Gottes gibt uns der hl. Paulus im Epheserbrief. Dort schreibt er: „Ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen“ (Eph. 4, 6). Der eine Gott und Vater aller Menschen ist über allen, der Herr aller Geschöpfe und zugleich erhaben über alles Erschaffene, der Unermessliche, der unabhängig ist von Zeit und Raum, der auch da noch ist, wo es keine Zeit und keinen Raum gibt.
Er ist durch alles, alles Erschaffene, das Lebendige und das Leblose, durchdringend mit seinem Sein und seiner Kraft. Er ist in uns allen, lebend im tiefsten Grund unserer Seele und wirkend in allen Tätigkeiten unserer Seelenkräfte.
 

Die erlernbare „Gebetstechnik“ des Christentums

Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm” (Joh. 4, 16). Durch die Liebe wird der Mensch mit Gott schon in dieser Welt aufs innigste vereinigt. Wer eine große Liebe zu Gott hat, ist mit Gott vereinigt in seinem Gedächtnis, indem er immer Gottes eingedenk ist. Er ist mit Gott vereinigt in seinem Verstand, indem er urteilt im Lichte des Glaubens, d. h. nach den von Gott geoffenbarten Wahrheiten, so dass er Gottes Gedanken nachdenkt und in seinem Urteil über Gott und die Geschöpfe mit dem Urteil Gottes übereinstimmt. Er ist mit Gott vereinigt im Willen, indem er nur das will, was Gott will und das verabscheut, was Gott verabscheut. Er ist mit Gott vereinigt im Gemüt, indem er sich nur an dem erfreut, woran Gott sein Wohlgefallen hat. Er ist mit Gott vereinigt im Werk, indem er alles tut und leidet aus Liebe zu Gott, nach dem Willen Gottes, zur Verherrlichung Gottes. Das Ziel, das jede nach Vollkommenheit verlangende Seele anstreben muss, ist also, in ihren Gedanken mit Gott vereinigt zu sein, indem sie beständig durchdrungen ist vom Bewusstsein der Gegenwart Gottes. Dieses Ziel wird aber nur allmählich, in langsamer Entwicklung erreicht.
 

Geduld mit sich selbst

Wer den Wandel in der Gegenwart Gottes lernen will, wird sich zuerst bemühen, öfter am Tage an Gottes Gegenwart zu denken; sodann geht man dazu über, öfter in der Stunde an Gottes Gegenwart sich zu erinnern. Nach und nach lernt man, auch häufiger und länger in den Gedanken an Gottes Gegenwart sich zu versenken, bis schließlich infolge einer besonderen Gnade Gottes das Bewusstsein der Gegenwart Gottes andauernd wird.
Das beständige Bewusstsein der Gegenwart Gottes ist vergleichbar mit dem ständigen Bewusstsein von unserem Körper. Wir denken nicht ständig ausdrücklich: „Ich habe einen Körper, ich habe einen Kopf, zwei Hände und zwei Beine ...“ Aber – wir vergessen auch nie darauf, einen Körper zu besitzen! So wie eine Sekretärin, deren Chef in ihrem Büro gerade anwesend ist, nie darauf vergisst, dass sie nicht allein ist, so kann der Christ ein ständiges, latentes „Daseinsgefühl“ von der Gegenwart Gottes erlernen. Er denkt zwar nicht ununterbrochen ausdrücklich daran, dass Gott in seiner Seele gegenwärtig ist, aber er vergisst auch nie darauf und wird stünd­lich oder sogar jede Minute kurz daran denken, dass Gott bei ihm ist.

Der erste Schritt:
Wer den Wandel in der Gegenwart Gottes lernen will, wird zuerst öfter am Tag, dann öfter in der Stunde daran denken, dass Gott bei ihm ist. Allerdings macht der Gedanke: „Gott ist da“ keinen wirklichen Eindruck auf uns. Das liegt daran, dass wir uns unter „Gott“ nicht so richtig jemanden vorstellen können.
Daher kann und soll man den Gedanken: „Gott ist da“ verbinden mit einer Eigenschaft Gottes. So werden wir öfter am Tag denken: „Der all­wissende Gott ist da“. Oder „Der allmächtige Gott ist da“. Für jeden, der Sorgen hat, ist der Gedanke an die Allwissenheit und Allmacht Gottes sehr tröstlich. Gott – weil allwissend – kennt meine Sorgen. Er kann – weil allmächtig – mein Problem mit einem Schlag lösen. Wenn er es dennoch nicht tut, dann weil er es auf elegantere Weise lösen kann. Allein dieses Beispiel zeigt, wie der Gedanke an die Gegenwart Gottes, verbunden mit einer seiner Eigenschaften, zu Gottesliebe und -vertrauen führen kann.
 

Die Eigenschaften Gottes

Es gibt unendlich viele Eigenschaften Gottes. Daher ist es sinnvoll, einige auswendig zu lernen und diese immer dann, wenn Gelegenheit dazu ist, zu überdenken.
So eine Liste der Eigenschaften Gottes könnte sein:
  • ewig und unveränderlich
  • allgegenwärtig und allwissend
  • allmächtig und allweise
  • heilig und gerecht
  • wahrhaft und treu
  • gütig und barmherzig

„Gott ist ewig“ bedeutet, er ist nicht der Zeit unterworfen wie wir. Zeit ist eine Funktion der Bewegung. Wenn sich nichts, absolut nichts bewegen würde, gäbe es auch keine Zeit, weil es keinen Maßstab gäbe, um früher und später zu unterscheiden. Daher hängt mit der Ewigkeit Gottes auch seine Unveränderlichkeit zusammen.
Wer überall gegenwärtig ist, der weiß auch alles. Wie tröstlich ist es doch, dass es keinen Ort gibt, wo wir von Gott verlassen sind. Wie sehr ermahnt der Gedanke, dass Gott uns immer und überall sieht, immer bei uns ist, so zu leben, wie Gott es will.
„Gott ist allweise“ bedeutet, er kann alles, selbst das Übel, zum Guten lenken. Voraussetzung dafür ist Gottes Allmacht. Wie lange und intensiv kann man doch angesichts der Flutkatastrophe im Indischen Ozean über Gottes Allweisheit nachdenken. Wozu lässt er so eine Katastrophe zu? Glauben wir wirklich, dass Gott auch aus so einem Naturgeschehen Gutes werden lassen kann?
„Gott ist heilig“ heißt, er liebt das Gute und hasst das Böse. Daher ist er auch gerecht, d. h. er belohnt das Gute und bestraft das Böse.
Gott kann nicht lügen und nicht irren. Daher ist er auch treu, d. h. er hält, was er verspricht und er führt aus, was er androht. Was bedeutet die Vorstellung, Gott würde uns die ewige Verdammnis nur androhen, damit wir schön brav seien, aber in Wirklichkeit gäbe es die Hölle gar nicht, für die Wahrhaftigkeit Gottes?
Das Gute, die Liebe und Gott sind identisch. Warum verbringen wir so ungern Zeit bei Gott (im Gebet), wenn er das höchste Gut für uns ist? Weil er nur das Gute für uns will, ist er barmherzig, d. h. er hat Mitleid mit unseren Nöten. Gott ist immer Derselbe! Dem reumütigen Sünder erscheint Gott wie ein Barmherziger, der verstockte Sünder kann in Gott nur den Gerechten erkennen.
Wer sechs Eigenschaften Gottes auswendig lernt und versteht, wie die anderen sechs damit zusammenhängen, hat 12 Eigenschaften Gottes, die er überdenken kann, wann immer er geistig nicht voll ausgelastet ist. So bleibt er schon über längere Zeit mit Gott verbunden, und der Begriff „Gott“ erhält für ihn langsam ein Profil, durch das er ahnt, wer ständig bei ihm ist.
 

Das assoziative Denken

Stellen Sie sich vor, ihnen fällt jetzt um diese Jahreszeit beim Wohnzimmer- oder Schreibtischaufräumen ein Urlaubsfoto in die Hand. Es zeigt Ihren „Sohnemann“ wie er mit Flossen, Taucherbrille und Schnorchel dem Badesee zustapft. Während sie dieses Bild betrachten, fallen Ihnen eine Reihe anderer Ereignisse aus dem Urlaub ein: Sie sehen vor ihrem geistigen Auge den Campingplatz, auf dem Sie ihren Wohnwagen abgestellt hatten, Sie erinnern sich an die gemütlichen Grillabende vor dem Wohnwagen, dabei erinnern Sie sich an diese nette Familie, – Wie hießen die doch gleich? Ach ja, die Maiers! – die Sie bei den Grillabenden kennen gelernt hatten;  plötzlich fällt Ihnen ein, dass Frau Maier doch einmal erwähnt hatte, Sie sei Schuhverkäuferin – übrigens Schuhe: Schon vor zwei Wochen hatten Sie sich vorgenommen, den Winterschlussverkauf zu nützen, um noch „gescheite“ Winterstiefel zu kaufen. Jetzt wird es aber wirklich Zeit! Sie nehmen sich fest vor, gleich morgen nach dem Frühstück loszuziehen, und die Stiefel zu kaufen.
Das ist assoziatives Denken. Das Urlaubsfoto von Ihrem Sohn mit Tauchausrüstung hat eigentlich überhaupt nichts mit dem Winterschlussverkauf und „gescheiten“ Stiefeln zu tun. Dennoch war es dieses Foto, das Sie über eine Kette von verschiedenen, assoziativ miteinander verknüpften Bildern an Ihren Entschluss, Winterstiefel zu kaufen, erinnert hat. Spontanes menschliches Denken ist eben gerade nicht logisch-analytisch sondern assoziativ.
Diese Eigenart des menschlichen Denkens, dass ein Ereignis den Menschen an ein anderes erinnern kann, obwohl sie logisch betrachtet eigentlich nichts miteinander zu tun haben, lässt sich nun bewusst für den Wandel in der Gegenwart Gottes nutzen.
So können Sie sich zum Beispiel vornehmen, jedes Mal, wenn das Telefon läutet, an die Gegenwart Gottes in ihrer Seele zu denken. Obwohl das Läuten des Telefons, logisch gesehen, nichts mit der Gegenwart Gottes zu tun hat, wird dank unseres assoziativen Denkens doch das eine an das andere erinnern. Es genügt nur ein wenig zu üben, das heißt immer wieder diesen Vorsatz zu erneuern, und Sie werden schon bald beachtliche Erfolge erzielen.
Die assoziative Verknüpfung von häufig am Tag sich wiederholenden Ereignissen mit dem Gedanken an die Gegenwart Gottes ist der eigentliche „Trick“ der Gebetsübung, die man den „Wandel in der Gegenwart“ Gottes nennt. Es gibt viele Ereignisse, die sich häufig am Tag wiederholen und dazu dienen können, mit dem Gedanken an die Gegenwart Gottes verknüpft zu werden. Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Als Ideenspender kann folgende Liste dienen:
  • Jedes Mal, wenn das Telefon läutet, will ich an die Gegenwart Gottes denken.
  • Jedes Mal, wenn die Uhr schlägt, ...
  • Jedes Mal, wenn ich das Haus/die Wohnung verlasse bzw. betrete, ...
  • Die Zeit, die ich im Fahrstuhl verbringe, ... .
  • Täglich während des „Betten Machens“, ... .
  • Vor jeder neuen Arbeit, die ich beginne, ... .
  • Jedes Mal, wenn ich beim Lernen eine neue Seite aufschlage, ... .
  • Jedes Mal, wenn ich einen Aktenordner aus dem Regal ziehe oder hineinstelle, will ich ... .
  • Jedes Mal, wenn ein neuer Kunde das Geschäft betritt, ... .

Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt!
Wer den Gedanken an die Gegenwart Gottes, an die er assoziativ erinnert wurde, dann so mit einer Eigenschaft Gottes oder mit einem kurzen Stoßgebet verbindet, der wird schon mehrmals täglich über den Zeitraum einiger Sekunden oder vielleicht sogar Minuten hinweg bewusst mit Gott verbunden bleiben.

Noch leichter wird diese Übung, wenn die assoziative Verknüpfung dann doch irgendwie wieder mit Sinn ausgefüllt wird. So kann man sich zum Beispiel vornehmen:

  • Jedes Mal, wenn das Telefon läutet, will ich daran denken, dass der barmherzige Gott bei mir ist und bevor ich abhebe erbitte ich in einem kurzen Stoßgebet für den Menschen auf der anderen Seite der Leitung die göttliche Barmherzigkeit.
  • Oder: Jedes Mal, wenn die Uhr schlägt, will ich an die Gegenwart des ewigen und unveränderlichen Gottes denken. Ich will daran denken, dass meine Zeit eines Tages ablaufen wird und will in einem Stoßgebet um eine gute Sterbestunde bitten.
  • Oder: Da mich „Betten machen“ geistig nicht wirklich fordert, will ich die Zeit, die ich dafür benötige, nutzen, um an den allwissenden Gott zu denken, der eben jetzt meine Kinder sieht, die in der Schule sind, meinen Mann bei der Arbeit, die Großeltern in ihrer Wohnung und will in Stoßgebeten den allwissenden Gott für meine Familie bitten.
  • Oder: Jedes Mal, wenn ein neuer Kunde das Geschäft betritt, will ich daran denken, dass der wahrhaftige Gott bei mir ist. Den Kunden will ich daher freundlich begrüßen, wahrhaftig mit ihm umgehen, ihn nicht nur als Kunden, sondern auch als Menschen, als Menschen mit einer unsterblichen Seele, wahrnehmen und den ganzen Kundenkontakt im Bewusstsein abwickeln, dass der wahrhaftige, heilige und gerechte Gott uns beobachtet.

Das letzte Beispiel lässt schon ahnen, welche Vorteile sich daraus ergeben, wenn die Arbeit im Bewusstsein der Gegenwart Gottes getan wird.
 

Die Vorteile für die Nächstenliebe

Das spontane menschliche Denken ist assoziativ und nicht logisch analytisch. Wir springen von einem Gedanken zum nächsten, obwohl beide logisch gesehen nichts miteinander zu tun haben. Diese Eigenschaft lässt sich für den Wandel in der Gegenwart Gottes nutzen.
Wer sich vornimmt, jedes Mal an die Gegenwart Gottes zu denken, wenn ein neuer Kunde das Geschäft betritt, wenn ein Mitarbeiter ins Büro kommt oder wenn ihm an der Haustüre jemand begegnet, der wird große Fortschritte in der eigenen Vollkommenheit und in der Nächstenliebe machen.
Die Gegenwart Gottes in der Seele des Gerechten hat streng logisch nichts mit dem Nachbarn zu tun, der mich an der Haustüre in ein Gespräch verwickelt. Mit ein wenig Übung aber kann ich beides miteinander verknüpfen, so dass die Menschen, die mir sonst zur Quelle der Ablenkung, Zerstreuung und nicht selten auch zur Sünde werden, mich daran erinnern, dass der allgegenwärtige Gott diese Begegnung sieht, hört was gesprochen wird, jedes Wort beurteilt und mir Barmherzigkeit erweist in dem Maße, in dem ich diesem konkreten Menschen barmherzig begegne.

Aber geht das? Macht es einen Menschen nicht gerade unaufmerksam, wortkarg oder verschroben, wenn er immer erst an Gott oder an eine seiner Eigenschaften denkt und dann noch hastig ein Stoßgebet spricht bevor er die Hand zum Gruß reicht?
Letzteres, das mit dem „hastigen Stoßgebet“, ist eine karikaturhafte Verkennung dessen, was der Wandel in der Gegenwart Gottes wirklich ist. Ersteres kann beruhigt verneint werden.
Wer im Bewusstsein: „Der allgegenwärtige Gott sieht mich, er hört alles ...“ mit seinen Mitmenschen spricht, wird sich davor hüten, schlecht über andere zu reden, auszuplaudern, was eigentlich nur persönlich anvertraut wurde, neugierig herausfinden zu wollen, was ihn eigentlich nichts angeht und vorschnell alles zu glauben, was über Kollegen, Bekannte usw. gesagt wird. Der Gedanke an Gott wird ihn auch daran erinnern, dass „Lästige ertragen“ eines der Werke der Barmherzigkeit ist. Der Gedanke: „Auch er ist ein Abbild Gottes“ wird dem gottverbundenen Menschen nicht nur die Kraft geben, auch mit schwierigen Menschen auszukommen, er wird noch mehr die Aufmerksamkeit ganz auf diesen Menschen richten im Sinne der Worte Christi: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40).
Eheleute, die durch das Sakrament miteinander verbunden sind, können sich darüber hinaus in Erinnerung rufen: „Gott spricht durch meinen Ehepartner“. Wie anders wird man dann seiner Ehegattin zuhören!
Wer die Begegnung mit seinen Mitmenschen mit dem Gedanken an die Gegenwart Gottes verknüpft, wird die Quelle vieler Sünden in einen Anlass großer Gnaden verwandeln und konkret seinem Nächsten Gutes tun.
 

Die Vorteile für die Gottesliebe

Die christliche Vollkommenheit, die Heiligkeit,  besteht in der vollkommenen Gottesliebe. Das ist nicht nur die einhellige Aussage aller Lehrer des geistlichen Lebens, das ist sogar eine Wahrheit, die über die verschiedenen Konfessionen allgemein anerkannt ist. Jener ist vollkommen zu nennen, der eine vollkommene Gottesliebe besitzt.
Dieser Gottesliebe steht allerdings die ungeordnete Selbst- und Weltliebe gegenüber. Die Vollkommenheit der Gottesliebe wird daher nur dann erreicht, wenn man der ungeordneten Selbstliebe und der unge­ordneten Weltliebe vollständig entsagt. Das Wachsen in der Gottesliebe ist demnach bedingt vom Abnehmen der Weltliebe und Selbstliebe. Je schwächer die Welt- und Selbstliebe wird, desto mehr erstarkt die Gottesliebe. Wenn die Welt- und Selbstliebe vollkommen überwunden ist, dann hat auch die Gottesliebe ihre Vollkommenheit erreicht.
Diese Grundsätze bezüglich der Vollkommenheit gelten für alle Christen ohne Ausnahme, für jung und alt, für Männer und Frauen, für Gebildete und Ungebildete, für Welt- und Ordensleute. Es gibt wohl verschiedene Grade der Vollkommenheit, aber nicht verschiedene Arten. Die Vollkommenheit ist im Wesen für die Menschen jeden Alters, jeden Geschlechtes, jeden Standes dieselbe.
Der Grund, warum so wenig Menschen zur Heiligkeit gelangen, erklärt sich aus diesem einfachen Grundsatz: Es fehlt am engen und beständigen An­schluss an Gott durch eine starke, glühende Gottesliebe, weil es an einer wahren und ernstlichen Loslösung von der ungeordneten Welt- und Selbst­liebe fehlt. Der Wandel in der Gegenwart Gottes ist nun auch eines der stärksten Hilfsmittel, um die Vollkommenheit der Gottesliebe zu erlangen.
Die Beweggründe, Gott zu lieben, sind die Vollkommenheiten und Wohltaten Gottes. Wir lieben Gott, weil er unendlich vollkommen ist, weil er ewig, unveränderlich, allmächtig, allweise, heilig, getreu ist, und wegen dieser unendlichen Vollkommenheit unsere Liebe verdient. Wir lieben Gott, weil er unendlich gütig ist, weil er uns Unwürdigen in der freigebigsten Weise an Leib und Seele, für Zeit und Ewigkeit, die größten Wohltaten erwiesen hat und immerfort erweist. Wer in der Gegenwart Gottes lebt, denkt oft am Tage an die Vollkommenheiten und Wohltaten Gottes. Darum wird er stets von neuem zu Akten der Liebe entflammt, strömen stets von neuem feurige Anmutungen der Gottesliebe aus seinem Herzen. Je häufiger wir aber Akte der Gottesliebe setzen, desto stärker und vollkommener wird in uns die dauernde Übung der Gottesliebe. Denn „Lieben lernt man durch lieben“. Je näher man am Feuer steht, um so mehr wärmt es. Je enger wir durch den Wandel in der Gegenwart Gottes mit Gott verbunden sind, um so mehr wird er unsere Gottesliebe entzünden.
Wer übt – so wie in den früheren Beiträgen erklärt – mehrmals am Tage, jedes Mal, wenn die Uhr schlägt, jedes Mal, wenn ..., an die Vollkommenheiten Gottes zu denken, sich in Erinnerung zu rufen, dass Gott ihn sieht, ihn hört und sich um ihn kümmert, der wird mit seinen Gedanken nicht mehr beim eigenen Ich und bei dieser Welt sein, sondern bei Gott und bemüht sein, ihm in allem zu gefallen. Das ist Gottesliebe!
 

Die Vorteile für den Alltag

Wie schaffe ich meine alltägliche Arbeit? Wie kann ich, ohne die Arbeit zu vernachlässigen, auch Zeit für mich, für die Familie und für das Gebet finden? Was soll ich tun, um beim Gebet nicht so zerstreut zu sein? Das sind Fragen, die eine gottsuchende Seele im Alltag beschäftigen.
Der Mensch denkt immer! Versuchen Sie einmal, sich in den Lehnstuhl zu setzten und nichts zu denken. Entweder Sie werden verrückt, oder Sie müssen sich eingestehen: Es geht nicht. Bei nur wenigen Aufgaben sind wir so auf die Arbeit konzentriert, dass wir außer an unsere Arbeit an nichts anderes mehr denken. Autofahren, Staubsaugen, Schreibtisch Aufräumen, Einkaufen, Feld- und Stallarbeit, Straßenbahn-Fahren, zu Fuß gehen, Bügeln, Telefonieren, Kochen und Essen und und und ... Die meiste Zeit des Tages sind wir mit Tätigkeiten beschäftigt, die uns geistig nicht ganz ausfüllen und während denen wir nebenbei noch an irgendetwas anderes denken. Dieses „irgendetwas“ brauchen wir aber nicht dem Zufall zu überlassen. Anstatt ständig das Radio oder sogar den Fernseher laufen zu lassen, kann die Zeit all dieser Arbeiten für das Gebet, für den Wandel in der Gegenwart Gottes genutzt werden.
Um das zu lernen, ist es sehr hilfreich, eine Zeit lang bewusst darauf zu achten, woran wir beim Kochen, Autofahren, etc. gedacht haben. So finden wir sehr schnell heraus, welche Gedanken uns so nebenbei beschäftigen. Meistens denken wir an erlittene Kränkungen. Oft träumen wir von Heldentaten, die wir vollbringen oder malen uns aus, wie wir dem Chef einmal so richtig die Meinung sagen. Jeder hat so seine Lieblingsgedanken, denen er immer wieder nachhängt – und oft führen diese Gedanken eher zu Sünde als zur Heiligkeit.
Wer lernt, diese Gedanken bewusst wahrzunehmen und dann von diesen Gedanken aus zur Gegenwart Gottes aufzusteigen, nützt das natürliche Absinken in seine Lieblings­träumereien, um sich wieder in die Nähe Gottes zu katapultieren.
So kann jener, der sich immer wieder ausmalt, wie er dem Chef einmal so richtig die Meinung sagt, überlegen, was ihm der gegenwärtige Gott, der eben diese Phantasien mitgehört hat, raten würde. Wie würde er dieses Problem lösen? Gibt es vielleicht im Leben Jesu eine Parallele zu meinem Problem? Hat nicht Jesus oft Probleme offen angesprochen? „Warum denkt ihr Böses in euren Herzen?“ „Warum versucht ihr mich zu töten?“ Wäre es nicht viel sinnvoller, mit dem Chef ein offenes Wort zu reden, als sich in Phantastereien zu flüchten?
Sind wir nicht oft in Gefahr, eine angefangene Arbeit schlecht oder nur halb zu erledigen? Wer, der irgendwo irgendwas putzen muss, kennt das nicht? Die großen, leicht zu reinigenden Flecken werden entfernt und „dahinten, im Eck, das sieht´s eh’ keiner“. Wer kennt das nicht: Eine Arbeit wird angefangen, dann verlässt uns die Lust und wir denken uns,  „Den Rest soll er sich dann selber machen“.
Solche alltäglichen Gedanken machen unzuverlässig, oberflächlich und die Arbeit mangelhaft. Wer in der Gegenwart Gottes arbeitet, wird sich immer wieder vor Augen halten, dass zumindest Gott auch dahinten in die Ecke sieht; dass es eigentlich nicht darum geht, ob „es“ jemand sieht, sondern dass ich meine Arbeit ordentlich erledige. Wer den Wandel in der Gegenwart Gottes übt, wird seine Arbeit immer als Erfüllung seiner Standespflicht verstehen, die das erste Mittel zur Heiligkeit ist. Plötzlich auftretende Unlust wird als Gelegenheit zu persönlicher Abtötung verstanden und führt nicht zu dem berüchtigten: „Den Rest soll er dann selber machen“, oder „Den Rest mach‘ ich dann morgen“.

Wer den Wandel in der Gegenwart Gottes übt, arbeitet sorgfältiger und besser. Dabei ist die Motivation für die Sorgfalt nicht die Anerkennung durch einen Menschen, nicht ein möglicher Karieresprung oder Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Einzig und allein das Bewusstsein, die Arbeit unter den Augen Gottes ist mein Mittel zu Heiligkeit, eifert  zu guter Leistung an. Daher bleibt die gottbezogene Seele auch in innerer Ruhe, wenn die gute Arbeit von den Vorgesetzten nicht anerkannt wird – denn letztlich nicht für sie, sondern für Gott wurde die Arbeit getan.
Pünktlich beginnen, rechtzeitig aufhören, ordentlich zu Ende führen – all das sind Wirkungen, die der Wandel in der Gegenwart Gottes auf unsere alltägliche Arbeit hat. Wer den Tag über mit Gott verbunden bleibt, wird zur Zeit des Gebetes schnell in der Gottesliebe entfacht, denn demjenigen, mit dem er den ganzen Tag nebenbei verbunden war, dem kann er sich nun endlich ausschließlich widmen.

In diesem Artikel wurde die traditionelle „Gebetstechnik“ des Wandels in der Gegenwart Gottes vorgestellt. An Ihnen liegt es nun, sie fruchtbar umzusetzen. Viel Erfolg dabei wünscht Ihnen Ihr Pater Walthard Zimmer!